Gerade am Umgang mit Flüchtlingen hat sich eine Wertedebatte neu entfacht. Welche Werte haben Zukunft? Unterstützen die traditionellen Werte den sozialen Zusammenhalt? Welche Werte wären es denn wert, sich für sie einzusetzen?
Inan: Ich denke, wenn man die muslimischen Flüchtlinge viel mehr einbindet in die Gemeindearbeit, hat man schon viele Dinge bewegt. Wichtig ist, sie nicht als Sonderfall zu nehmen. Nur ein Beispiel: Wir hatten zu einem Fußballturnier der DITIB-Jugend spontan eine Gastmannschaft jugendlicher Flüchtlinge eingeladen. Und ganz überraschend ist die Erste geworden. Diese bunt gewürfelte Mischung von Geflüchteten hatte sich zum ersten Mal gesehen, sie haben sich über den Sieg gefreut und gemerkt: Wir sind ein Teil der Gemeinde hier. Wir können an einem Turnier teilnehmen, gewinnen, erfolgreich sein. Wir brauchen mehr dieser Beispiele, die Flüchtlinge aktiv in die Jugendarbeit einbinden. Das sollte unser Ziel sein.
Stefke: Ich erlebe gerade bei Jugendlichen unseres Verbands, aber auch darüber hinaus, ein sehr jugendgemäß unkompliziertes Helfen. „Da sind Menschen, die brauchen jetzt Unterstützung und dann helfen wir auch.“ Es gibt eine der Jugendarbeit angemessene, wunderbare Kreativität, um aufeinander zuzugehen. Der Sport ist das eine, aber auch viele Treffs und Cafés. Es geht nicht nur darum, beim Thema Integration an geflüchtete Menschen zu denken. Es geht auch darum, Menschen mit in den Blick zu nehmen, die andere Lebenseinstellungen und Lebensentwürfe haben. Und da wird es darauf ankommen, wie Verbände, ganz egal welcher Couleur, einen Beitrag dazu leisten, Menschen miteinander zu verbinden. Dazu ist es wichtig, Räume zu bieten als Jugendarbeiter und Jugendarbeiterinnen, die diese Begegnungen schaffen.
Wo sind diese Orte in Ihren Jugendverbänden, an denen Wertebildung stattfindet? Welche Begegnungs-, Lern- und Erfahrungsorte gibt es?
Yüzay: Ich glaube, die Flüchtlingssituation hat uns und die deutsche Gesellschaft dazu gebracht, dass wir uns viel mehr wertschätzen und mehr zusammenarbeiten. Auch für jugendliche Flüchtlinge sind Gebetsstätten, Kirchen, Moscheen, Synagogen und ähnliche Einrichtungen eine wichtige Anlaufstelle.
Inan: Damit diese Werte wie Verantwortung und Selbstständigkeit gelebt werden, machen wir jeden Monat Vorträge, manchmal auch Seminare und Konferenzen zu sozialen und religiösen Themen, die die Jugendlichen selber von A bis Z organisieren. Sie wählen das Thema, die Referenten, die Örtlichkeiten, organisieren die Finanzierung. Und wenn alles am Ende geklappt hat und einige hundert junge Menschen kamen zum Vortrag, zu der Konferenz, zu dem Seminar, dann haben sie Jugendlichen ihr Erfolgserlebnis. Verantwortung übernehmen ist hier ein wichtiger Wert.
Bauer: Die evangelische Jugend ist sehr ausdifferenziert: Da gibt es die Jugendgruppen und Treffs in den Kirchengemeinden. In den Dekanatskonventen wird viel gearbeitet zu Flüchtlingsthemen, Umgang mit Drogen, Partnerschaft, Liebe und Sex und es wird zusammen Gottesdienst gefeiert. Auf der Landesebene trifft sich einmal im Jahr der Landesjugendkonvent in Pappenheim. Dort entwickeln Jugendliche vier Tage lang große ethische Fragestellungen, von denen sie sagen: Das sind die Fragen, die Jugend heutzutage diskutieren muss. Im vergangenen Jahr waren Frieden und Friedensethik die Themen, in diesem Jahr sind es Interkulturalität und das interreligiöse Gespräch. Eingeladen sind Menschen verschiedener Religionen, die miteinander reden.
Stefke: Zunächst mal ist es wichtig, dass die Leute in der Jugendarbeit auf der Ortsebene zusammenfinden, dass sie Gemeinschaft spüren und in eine Diskussionskultur hineinfinden, die für die anderen Ebenen ganz wichtig ist. Auf der Ortsebene gibt es noch eher den Gemeinschaftsaspekt. Dann kommen wir über die verschiedenen Ebenen irgendwann auf die Landesebene, wo wir uns natürlich ganz breit mit unterschiedlichsten Themen befassen. Hier geht es darum, Werte in Gesellschaft, Politik und natürlich auch in die eigene Kirche hineinzutragen und als Jugend die Stimme zu erheben. Ich glaube, dass das bis heute eine gute Tradition der Jugendverbände ist. Das Wichtigste an dieser Arbeitsweise – die übrigens bei den Ausbildungen als Jugendleiterin und Jugendleiter grundlegend ist ‑ ist die Bildungsarbeit.
In der internationalen Jugendarbeit kann es jetzt wieder ein neuer Anstoß sein, durch die gesellschaftliche Diskussion auch dieses interkulturelle Lernen, den interreligiöse Dialog, mehr in den Mittelpunkt zu stellen. Eine Aufgabe für uns sollte es sein, zusammenzuarbeiten, um die anderen besser verstehen zu lernen. Viele Player müssen Anstrengungen unternehmen, um zu zeigen: Wir lassen uns nicht auseinander dividieren, sondern ziehen an einem Strang, basierend auf dem Koran oder dem Evangelium und letztlich auf den Menschenrechten. Ich plädiere für das, was Jugendliche gut können: aufeinander zugehen, ins Gespräch kommen, zuhören, sich eine Meinung bilden und dann versuchen, ein tolerantes Zusammenleben zu pflegen.
Inan: Moscheeführungen und der interreligiöse Dialog sind für uns sehr wichtig ist. Die meisten Führungen bei uns machen Jugendliche. Da kann der Jugendliche Schulklassen, Pfarrgemeinden oder Politikern seine Religion erklären, indem er Fragen beantwortet wie zum Beispiel: „Betest du auch, fastest du auch, warst du auch mal auf Pilgerfahrt?“ Viele besorgte Bürger, die sich jetzt unsicher fühlen, sind Erwachsene. Ich kenne keinen Jugendlichen, der sich wegen der Flüchtlinge unsicher fühlt, eher vielleicht wegen der Schule oder der Arbeit.
Bauer: Also, ich würde das unterstreichen: Ich fand faszinierend, dass Sie gesagt haben, es könnte aus Ihrer theologischen Sicht eine Vorsehung sein, dass wir jetzt die Chance haben, ein gemeinsames Gespräch, Respekt und Fairness – da sind wieder die Werte – im Umgang miteinander zu entwickeln. Ich fürchte auch, dass Leute die Chance ergreifen, auf die Ängste, die es in dieser Gesellschaft gibt, mit Ausgrenzung zu reagieren. Und ich vermute, dass die Wahlen, die wir jetzt am Sonntag erleben werden, uns ein böses Erwachen bescheren. Ich schäme mich an manchem Punkt für Aussagen auch bayerischer Politiker, für das Hofieren von ungarischen oder anderen Staatsmännern. Da werden Ressentiments kultiviert, wo wir genau das Gegenteil bräuchten: Wir brauchen Politiker, die Menschen mit Respekt anschauen, weil sie im Gegenüber den Menschen erkennen, und zwar einen bedürftigen Menschen wie man es selber auch ist. Das wäre die Grundlage dafür, dass man miteinander ins Gespräch kommt.
Ist diese gleiche Augenhöhe wirklich gewollt, oder fühlt man sich etwas besser? In unserer Gesellschaft gibt es deutliche Egoismen oder auch eine Angst, das eigene zu verlieren. Ich finde also den Gedanken sehr attraktiv, zu sagen, auf dieser gemeinsamen religiösen Grundlage der Menschenfreundlichkeit finden wir uns als Menschen zusammen. Und das ist es, was verbindet. Das Wissen darum, dass man Fragen des Zusammenlebens auch nur zusammen lösen kann – das bringen die Religionsgemeinschaften ein.
Stefke: Es ist ja nicht so, dass wir jetzt aufgrund einer gesellschaftlichen Situation anfangen, Wertebildung zu betreiben. Wenn ich die Themen betrachte, die innerhalb des Kontextes der Flüchtlingsfragen auftauchen, kann ich sagen, dass wir die seit vielen Jahren bearbeiten. Sei es internationale Solidarität, sei es die Grenzen des Wachstums, sei es für gute Lebensbedingungen vor Ort zu sorgen und damit Fluchtursachen zu bekämpfen. In unseren Werten sollten wir uns deshalb nicht durcheinander bringen lassen. Es gibt viel zu viele, die jetzt ein wenig in Aufruhr geraten und so tun, als ob all das uns plötzlich ereignet. Die Dinge waren durchaus vorhersehbar. Als Jugendarbeiterinnen und Jugendarbeiter sind wir gut aufgestellt, entsprechenden Herausforderungen zu begegnen ‑ das heißt natürlich auch, dass ständige Veränderung angesagt ist, um sich mit gesellschaftlichen Fragen auseinanderzusetzen.
Yüzay: Die religiösen Verbände leben Solidarität seit Jahren. Nur die Politik scheint mit der jetzigen Situation überfordert zu sein. Muslimische Vertreter, katholische, evangelischen – sie treffen sich immer wieder.
Inan: Ja, die Politik kann viel von den religiösen Verbänden lernen. Nächstenliebe gibt es in jeder Religion – ein beständiger Wert, den wir gemeinsam leben. Das war ja auch Tenor heute, dass wir gemeinsame Aufgaben haben und gemeinsam anpacken. In der Politik allerdings ändern sich Werte immer wieder – je nachdem, welche Partei, welche Regierung, welche Kanzlerin oder Kanzler an der Macht ist. Hier könnten die Politiker von den religiösen Verbänden lernen, wie man beständiger mit Werten, vor allem mit Jugendlichen, arbeiten könnte.