Bild von drei Juna-Magazinen

juna #3.24 Flucht

Ein neues Leben im fremden Land: Günel Rzayeva aus der Ukraine erzählt von ihrer Flucht und dem neuen Leben in Deutschland.

Bild von Günel Rzayeva

Ende April 2022 verschärft sich die Lage im ukrainischen Odessa. Bis dahin wurden vor allem Militäreinrichtungen in und um die Stadt am Schwarzen Meer von russischen Raketen getroffen, nun geraten auch immer mehr Wohnhäuser unter Beschuss. Eine der Raketen schlägt Anfang Mai ganz in der Nähe des Hauses ein, in dem Günel Rzayeva mit ihrer Familie lebt – ein Ereignis, das ihr Leben schlagartig verändert. Innerhalb weniger Tage lässt sie alles zurück und flieht mit ihrer Familie vor dem Krieg, den Russland in ihre Heimat brachte. Ihr Vater habe eigentlich nicht gehen wollen, sagt Günel Rzayeva: „Er hatte ja dort alles.“ Doch die immer stärker werdende Bombardierung habe der Familie keine Wahl gelassen, zu gefährlich wäre die Situation in Odessa geworden. Ihre Eltern stammen ursprünglich aus Aserbaidschan, sie selbst lebte nie dort. In der Ukraine hatte sie gerade erst die Schule beendet, als die russischen Invasoren einmarschierten. Innerhalb weniger Wochen musste sie ein völlig neues Leben beginnen.

DIE HILFE VON FREMDEN

Mit dem Bus flüchtete Günel Rzayeva aus der Ukraine nach Rumänien, von da aus ging es mit dem Zug weiter über Ungarn nach Augsburg. Von hier aus schickte das Landratsamt sie und rund 20 andere Geflüchtete mit dem Bus ins nahe Zus-marshausen. Dort nahmen dann Ehrenamtliche die Ukrainer:innen in Empfang, erzählt die heute 20-Jährige, beruhigten sie und zeigten ihnen den Ort. Manche der Helfer:innen gehörten zum Verein „Familien in Zusmarshausen“, andere waren ganz einfach Bürger:innen, die etwas beitragen wollten. Einige von ihnen hatten ebenfalls einen Migrationshintergrund, sagt die junge Ukrainerin. Insbesondere der Helfer Herbert war eine große Unterstützung, wie Günel sich erinnert. „Ich kann mir nicht vorstellen, wie es ohne seine Hilfe gewesen wäre“, sagt sie. Die Kommunikation war anfangs die größte Herausforderung für Günel. Sie selbst war in ihrer ukrainischen Gruppe die Einzige, die immerhin Englisch sprach. Bis sie Deutsch lernen konnte, dauerte es nach ihrer Ankunft noch: „Alle Kurse waren voll.“ Erst nach sieben Monaten erhielt sie einen Platz. Zuvor übte sie erste Wörter mit den freiwilligen Helfer:innen. Deutsch zu lernen war für Günel ein entscheidender Schritt zur Integration im fremden Land: „Ohne Sprache geht es nicht.“

AUF DEM WEG IN DEN BERUF

Trotzdem fiel es ihr zunächst schwer, sich zu verständigen. „Am Anfang hatte ich Angst und traute mich nicht, Deutsch zu sprechen. Aber irgendwann musste ich“, erzählt die 20-Jährige. Ihren Vater begleitete sie mehrmals zum Arzt: „Deswegen lernte ich zuerst medizinische Begriffe, dann erst normales Alltagsdeutsch“, sagt  Günel und lacht. Inzwischen kommt sie mit der neuen Sprache gut zurecht, im September beginnt sie eine Ausbildung zur Industriekauffrau. Einfach war der Weg ins Berufsleben nicht, wie sie sagt: „Ich habe ungefähr 15 Bewerbungen geschrieben. Nur zwei Firmen haben mich kontaktiert.“ Viele Unternehmen hätten Bedenken wegen der Aufenthaltstitel der Ukrainer:innen, so Günel. Sie schaffte es, sich innerhalb kurzer Zeit in Deutschland zu integrieren und hier ein neues Leben zu beginnen. Ihre Erfolgsgeschichte veranlasste eine deutsche Freiwillige dazu, sie auf ein Aktionsprogramm des BJR aufmerksam zu machen: die Jugendintegrationsbegleiter: innen. Das sind junge Menschen mit Flucht- oder Migrationshintergrund, die ihre eigenen Erfahrungen weitergeben und anderen helfen, aktiver Teil der Gesellschaft zu werden. Das Programm startete im Jahr 2017, seitdem hat der BJR in fünf Fortbildungen rund 50 Jugendintegrationsbegleiter: innen ausgebildet. Sie halten Workshops und Vorträge und beraten auch Jugendarbeiter:innen sowie junge Menschen mit Migrationshintergrund, die Unterstützung im neuen Land benötigen.

ANDEREN HELFEN UND DABEI LERNEN

In Günels Fortbildung im Sommer und Herbst 2023 ging es um gesellschaftliche Themen wie Diskriminierung und Rassismus, zudem um Self-Empowerment und die eigene Identität. Insgesamt dauerte der Lehrgang vier Monate – das war für Günel eine „richtig geile Erfahrung“, wie sie sagt. „Ich habe viel gelernt.“ Nach der Fortbildung kam sie zum Projekt „Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage“, wo sie zunächst bei Vorträgen anderer Courage-Coaches hospitierte. Vor kurzem hielt die 20-Jährige schließlich selbst ihren ersten Workshop an einem Augsburger Gymnasium und sprach dort mit den Schüler:innen über Diskriminierung und Rassismus. „Fast alle hatten Migrationshintergrund, deswegen waren sie super engagiert“, sagt sie. Günel hat von den jungen Menschen viel positives Feedback bekommen. Sie freuten sich unter anderem darüber, Raum zum Diskutieren zu bekommen und über eigene Erfahrungen sprechen zu können. Ihr Engagement hilft nicht nur den Jugendlichen, erklärt Günel. Sie hat darüber hinaus viel über sich selbst gelernt: „Ich konnte eigene Vorurteile reflektieren und mich weiterentwickeln.“ Dass Jugendintegrationsbegleiter: innen jungen Menschen zur Seite stehen, hält Günel Rzayeva für „entscheidend“, wie sie sagt: „Das öffnet einen Raum, in dem man
über solche Themen reden kann.“ 

Ansprechperson

Karin Fleissner
Pressesprecherin