Zu den Projektzielen gehört es, Multiplikator_innen und Jugendliche für den Charakter unterschiedlicher Gedenk- und Erinnerungskulturen zu sensibilisieren und zur Entwicklung eines reflektierten Geschichtsbewusstseins im Hinblick auf die jeweils verschiedenen gewachsenen Formen von Erinnerungskulturen beizutragen sowie konfligierende Erinnerungen zu thematisieren. Dabei wird bewusst eine thematische Eingrenzung auf den Zweiten Weltkrieg sowie den Nationalsozialismus mit dessen spezifischen Verbrechenskomplexen anvisiert.
Als Werkzeug für den Austausch und als Basis zur Bereitstellung methodisch-didaktischer Anregungen schlagen die Initiator_innen eine mehrsprachige Webseite vor, die inhaltliche Anregungen und Informationen zu verschiedenen Ländern und ihren Erinnerungs- und Gedenkformen sowie zur Selbstreflexion bereit stellt und für die Praktiker_innen im Jugendaustausch darüber hinaus einen Methodenpool bietet. Das mehrsprachige Social Media- und Projektmanagementtool „Wechange“ (http://wechange.de) könnte zudem die Möglichkeit schaffen, sich mit anderen Multiplikator_innen zu vernetzen, mit internationalen Partnern zu kommunizieren, Planungsprozesse innerhalb von Jugendbegegnungen abzustimmen und einen Erfahrungsaustausch zu erleichtern. Neben der Möglichkeit zur reinen Kommunikation bietet das Tool praktische Möglichkeiten wie gemeinsame Kalenderfunktion, die Möglichkeit, Dateien sicher online zu stellen und Aufgaben übersichtlich darzustellen bzw. Arbeitsaufträge zu vergeben. Derzeit ist eine deutsch-, englisch- und russischsprachige Version verfügbar. Ein ukrainisches Sprachmodul ist in Programmierung. Auch wenn den Initiator_innen eine solche gemeinsame Webseite zeitgemäß erscheint. sind selbstverständlich auch andere, nicht-digitale Publikationsformate wie Handreichungen, Ordner etc. in gemeinsamer Runde mit den möglichen Projektpartner_innen zu diskutieren. Weiterhin schlagen die Inititator_innen Fortbildungen für Multiplikator_innen, um eine Qualitätssicherung der Angebote sicherzustellen. Neben dem Rückgriff auf und der Adaption von bewährten, gleichwohl nicht zwangsläufig im Bereich der Internationalen Jugendarbeit gängige methodisch-didaktische Ansätze aus den Bereichen der Gedenkstättenpädagogik und der außerschulischen historisch-politischen Bildung, sollen im Projekt „Reflecting Memories“ neue Methoden und bisher wenig oder nicht genutzte Quellen und Biografien einbezogen werden. Letzteres gilt vor allem für die Bereiche der Rettung von Jüdinnen und Juden durch Angehörige der Mehrheitsbevölkerung in den ehemals besetzten Ländern, aber auch zur Kollaboration sowie zum jüdischen und nicht-jüdischen Widerstand. Ähnliches gilt auch für unterschiedliche erinnerungskulturelle Ausdrucksformen, beispielsweise für die Arbeit zu Denkmälern, aber auch zur Topografie von KZ-Gedenkstätten.
Ein wichtiger methodischer Ansatz wäre die Förderung von Medienkompetenz. Der Geschichtsdidaktiker Bodo von Borries sprach bereits 2009 in seinem Aufsatz über die „Fallstricke interkulturellen Geschichtslernens“ davon, dass wir derzeit eine „Krise der Schriftlichkeit, der Literalität“ insgesamt erleben, und dass angesichts des pictural turn oder iconic turn, für den auch, aber nicht nur, die digitalen Medien stehen, „Schriftlichkeit in weiten Teilen [...] überflüssig“ wird. Von Borries konstatiert, dass die „Massen [...] vielfach in einem nachliteralen, nichtschriftlichen Zeitalter“[1] leben. Ein Blick auf soziale Medien wie Instagram, facebook oder auch YouTube, um die bekanntesten Beispiel zu nennen, bestätigt diesen Befund. Christoph Hamann beruft sich in seiner Arbeit zu „Visual History und Geschichtsdidaktik“ auf den Dessauer Bauhaus-Lehrer Lázló Moholy-Nagy mit den Worten „nicht der schrift-, sondern der fotografie-unkundige wird der analfabet der zukunft sein“ und verallgemeinert diese Aussage auf den gesamten Bereich „technisch generierte[r] Bilder stehender oder bewegter Art“[2]. Als Initiator_innen denken wir, dass es legitim ist, diese Befunde auf ein internationales pädagogisches Setting zu übertragen.
Nicht nur das schulische Geschichtslernen, sondern auch internationale Jugendbegegnungen müssen sich diesen Entwicklungen stellen, sonst drohen ihre Angebote und Inhalte an den Teilnehmenden vorbeizugehen. Junge Menschen sind nicht nur mit einer Flut von Bildern konfrontiert, sondern kennen bei ikonischen Bildern nicht unbedingt den historischen Kontext. Ein markantes Beispiel ist das aus dem sogenannten Stroop Bericht, also dem „Bericht des Generals der Waffen-SS Jürgen Stroop vom 16. Mai 1943 an den Reichsführer-SS Heinrich Himmler und den Höheren SS- und Polizeiführer Ost Friedrich Wilhelm Krüger“ stammende Foto eines kleinen jüdischen Jungen mit erhobenen Händen. In der Regel wird dieser Junge, im Original in einer Gruppe stehend, singulär abgebildet. Er ist so zu einer Ikone für die Zerschlagung des jüdischen Aufstandes im Warschauer Ghetto geworden. In einem anderen Kontext hat der brasilianische Zeichner Latuff diese Ikone aufgegriffen und den Jungen als Palästinenser markiert. Die historisch problematische und zugleich antisemitische Aussage lautet hier, die israelische Armee würde Methoden der Nationalsozialisten anwenden. Das Bild spielt erinnerungskulturell eine wichtige Rolle und mag ein extremer, aber durchaus emblematisches Fall dafür sein, dass ein Wissen um historische Hintergründe und Bildkompetenz in der Internationalen Jugendarbeit ein wichtiges Feld sein können.
Die Förderung von Medien- und vor allem Bildkompetenz in Zusammenhang mit den je spezifischen Inhalten im Bereich Erinnern und Gedenken an die Folgen der nationalsozialistischen Verbrechen wäre also sowohl zu den Projektzielen, als auch zu den pädagogischen Ansätzen zu zählen. Dies gilt umso mehr, als wir mit dem Ende der Ära der Zeitzeugenschaft, so wie wir sie bis dato kennen, konfrontiert sind. Zukünftige Jugendbegegnungen werden demzufolge zunehmend auf digitaliserte Formen aufgezeichneter Erinnerungen, aber auch auf andere Medienprodukte wie Filme zurückgreifen. Hierzu methodisch-didaktische Anregungen zu geben, könnte ein Kernstück des Projektangebots sein. Konkret wird vorgeschlagen, die für den universitären Rahmen entwickelte Analysemethode der ikonografisch-ikonologischen Bildinterpretation[3] für den hier zur Rede stehenden Rahmen zu adaptieren und umzuarbeiten. Der Vorteil dieser Methode liegt darin, dass sie das einzelne Bild oder die Fotografie nicht als singulär betrachtet, sondern es kontextualisiert und in einem gestuften Verfahren entziffert.
Die pädagogischen Angebote von „Reflecting memories“ basieren zudem auf bewährten familienbiografischen Ansätzen ebenso wie auf theaterpädagogischen Übungen nach Augusto Boals „Theater der Unterdrückten“, auf der Arbeit mit videografierten Interviews mit Überlebenden der deutschen Vernichtungspolitik, auf interaktiven und aktivierenden Methoden und auf quellenkritischen Auseinandersetzungen mit Originaldokumenten.
Zur Gewährleistung eines selbstreflexiven Umgangs mit der Position von begleitenden Pädagog_innen und Multiplikator_innen in der Internationalen Jugendarbeit werden zudem einzelne Methoden aus dem Fortbildungskonzept für Gedenkstättenpädagog_innen „Verunsichernde Orte“[4] des Fritz Bauer Instituts adaptiert.
[1] Von Borries, B. (2009): Fallstricke interkulturellen Geschichtslernens. Opas Schulunterricht ist tot. In: N.Georgi, V./Ohliger, R. (Hrsg.): Crossover Geschichte. Historisches Bewusstsein Jugendlicher in der Einwanderungsgesellschaft. Hamburg, S. 39.
[2] Hamann, Ch. (2007): Visual History und Geschichtsdidaktik. Bildkompetenz in der historisch-politischen Bildung (S.51). Herbolzheim.
[3] Pilarczyk, U./Mietzner, U. (2005): Das reflektierte Bild. Die seriell-ikonografische Fotoanalyse in den Erziehungs- und Sozialwissenschaften. Bad Heilbrunn.
[4] Thimm, B./Kößler, G./Ulrich, S. (Hrsg.) (2010): Verunsichernde Ort. Selbstverständnis und Weiterbildung in der Gedenkstättenpädagogik. Frankfurt /M.