18.03.2023

Ethnic / Racial Profiling als Problem anerkennen und Maßnahmen ergreifen

Der Bayerische Jugendring vertritt die Interessen aller Kinder und Jugendlichen in Bayern. In unseren Verbänden, Einrichtungen und Jugendringen sind ebenfalls Kinder und Jugend-liche vertreten, die in vielen Lebensbereichen alltäglichen Rassismus erfahren.

Diese Erfahrungen können auch unmittelbare Folge der Diskriminierungserfahrungen ihrer Angehörigen und Bezugspersonen sein. Dabei erleben sie nicht nur Rassismus durch Individuen, sondern auch durch Institutionen und in Strukturen. Der institutionelle Rassismus äußert sich u.a. bei der Suche nach einem Ausbildungs- oder Arbeitsplatz, bei der Wohnungssuche, aber auch durch rassistisch-motivierte Personenkontrollen oder Durchsuchungen durch die Polizei.

Während sich individuelle Diskriminierung auf die Handlungen einzelner Personen gegenüber anderen bezieht, bezeichnet institutionelle Diskriminierung Formen der - oft negativen - Ungleichbehandlung, die von und innerhalb von Organisationen, z. B. Verwaltungsbehörden, Polizeistationen oder auch Schulen, umgesetzt werden und die über die bewussten Handlungen einzelner Personen hinausgehen.

Strukturelle Diskriminierung ist wiederum eng mit den Praktiken von Organisationen verbunden und bezeichnet im weitesten Sinne jahrzehntelang andauernde "soziale Bedingungen", die Menschen routinemäßig und regelmäßig gegenüber der Mehrheitsgesellschaft in eine benachteiligte Position bringen und bestehende Herrschaftsstrukturen reproduzieren.

Die Diskriminierung erfolgt aufgrund verschiedener, teilweise zugeschriebener Merkmale, auch wenn die Personen in Deutschland geboren, sozialisiert und erzogen wurden. Am stärksten betroffen sind Menschen mit Migrationsbiografie oder Menschen, die z. B. aufgrund ihrer Hautfarbe als "anders" wahrgenommen werden, Menschen mit einem niedrigen sozioökonomischen Status, Menschen mit Behinderungen, Frauen und LGBTIQ*.

Eine äußerst wichtige Tatsache wird jedoch häufig ausgeblendet: Die erwähnten Kategorien der Unterschiede von Rassismus und Diskriminierung können auf mächtige Weise zusammenwirken: Schwarze Frauen können z. B. sowohl rassistischer Diskriminierung aufgrund ihrer Hautfarbe als auch Sexismus aufgrund ihres Frauseins ausgesetzt sein. Dies gilt umso mehr, wenn sie zusätzlich Musliminnen sind und unter einer körperlichen Behinderung leiden. Das Zusammentreffen mehrerer Kategorien von Unterschieden, die potenziell zu Diskriminierung führen, trägt den technischen Namen "Intersektionalität".

Jugendliche, die in VJMs organisiert sind, ehrenamtlich aktiv sind und die Angebote der Jugendarbeit nutzen, berichten, ebenso wie andere Jugendliche mit und ohne Migrationsbiografie, von ihren alltäglichen Rassismuserfahrungen. Beispielsweise, sollen sie als Einzige an der Bushaltestelle oder am Treffpunkt ihren Ausweis vorzeigen, ihre Identität wird in Bahn oder Zug öfter überprüft, sie stehen in Geschäften unter der Beobachtung der Kaufhausdetektive, werden am Flughafen häufiger kontrolliert und vieles mehr. Jugendliche werden damit öffentlich als mutmaßliche Kriminelle gekennzeichnet, und als “Andere” und “Nicht- Dazugehörige” (“Othering”) behandelt. Die wenigsten bringen ihre Erfahrungen zur Anzeige, wie beispielsweise die empirische Studie und Evaluation: „Hasskriminalität in München. Vorurteilskriminalität und ihre individuellen und kollektiven Folgen“ des Sozialwissenschaftlichen Instituts München aufzeigt. Dies passiert zum einen, weil es schwer ist, nachzuweisen, dass es sich um eine ungerechtfertigte Personenkontrolle gehandelt hat, zum anderen, weil das Vertrauen in den Polizeiapparat gestört ist und die Betroffenen resigniert und Angst vor Repressalien haben.

Im Zusammenhang mit Rassismus in der Polizei sind neben den alltäglichen hier aufgezählten Fällen zahlreiche weitere prominente dabei. Die einseitigen Ermittlungen bei der NSU Mordserie, der Tod von Oury Jalloh in Polizeigewahrsam und die vielen rassistischen Chatgruppen, die in den letzten Jahren aufgetaucht sind, sind nur Beispiele dafür. Dass Studien zu Ethnic/ Racial Profiling und Rassismus innerhalb der Polizei immer wieder abgelehnt werden und der Diskurs nicht stattfindet.

Die EU Kommission bescheinigt Deutschland einen zu engen Rassismus- und Diskriminierungsbegriff, der sich lediglich auf die Aufklärung rechter Gewalt und Rechtsextremismus bezieht und nicht auf die Benachteiligung von Personen oder Personengruppen aufgrund äußerer Merkmale.

„Das Diskriminierungsverbot umfasst nicht nur unmittelbar diskriminierende Gesetze und Handlungen, sondern auch scheinbar neutrale Regelungen und Praktiken, die faktisch zu Ungleichbehandlungen führen. Entscheidend ist die Wirkung einer Maßnahme. Es kommt darauf an, ob eine Maßnahme den betroffenen Menschen tatsächlich diskriminiert. Nicht entscheidend ist hingegen die Motivation der handelnden Beamt:innen. Es ist daher irrelevant, ob sie aus einer rassistischen Grundhaltung diskriminierend handeln oder davon ausgehen, in der Erfüllung dienstlicher Pflichten zu handeln, ohne sich ihres diskriminierenden Handelns bewusst zu sein.“

(https://www.institut-fuer-menschenrechte.de/fileadmin/user_upload/Publikationen/Stellungnahmen/Stellungnahme_Racial_Profiling_Bund_Laender_muessen_polizeil_Praxis_ueberpruefen.pdf, S.3)

Das Erleben von Rassismus geht immer mit einem Gefühl der Ohnmacht und der Ungerechtigkeit für die Betroffenen einher. Wird Rassismus von staatlichen Organen ausgeübt, ist dieses Gefühl umso stärker. Die Polizei hat eine besondere Machtstellung innerhalb der Gesellschaft, die sie im Idealfall dafür nutzt, um Gesetze und Menschenrechte umzusetzen. Für Betroffene entsteht der Eindruck einer Schieflage: Der „Freund und Helfer“ sei nur für die Mehrheitsbevölkerung da und schütze deren Normen. Diese Erfahrung prägt die Betroffenen schon im jungen Alter, wenn sie Zeug:innen von Rassismus z. B. durch die Behörden, Polizei, Wachpersonal, Schulen oder Pflegepersonal werden. Rassistisches und diskriminierendes Verhalten ist gesetzlich verboten. Es sollte im Eigeninteresse des Staates und der Polizei liegen, ihre Strukturen und die Entwicklung in der Polizei regelmäßig zu überprüfen und weiterzuentwickeln.

Es gibt in Deutschland keine umfassende Studie zu Racial oder Ethnic Profiling in der Polizei. Es gibt einzelne Studien von zivilgesellschaftlichen Organisationen in Großstädten wie Berlin oder München. Auf europäischer Ebene gibt es Berichte, Untersuchungen, Urteile und Stellungnahmen, die deutlich dafür sprechen, dass Deutschland in seiner Polizeiarbeit ein Problem mit Racial bzw. Ethnic Profiling hat (s. Quellenangabe).

Ethnic oder Racial Profiling gehen nicht in erster Linie bzw. allein auf die Haltung der Beamt:innen zurück. Vielmehr stehen hier Anordnungen durch Vorgesetzte, diskriminierende Gesetze, wie beispielsweise § 22 1a  des Bundespolizeigesetzes https://www.gesetze-im-internet.de/bgsg_1994/__22.html , eine tradierte Praxis und die Struktur in der Kritik. Dabei kann es sich z.B. um unklare Anweisungen handeln. Deshalb sind die Vorgesetzten verpflichtet, stärker darauf zu achten, dass die Anweisungen an die ausführenden Beamt:innen keine diskriminierenden oder rassistischen Handlungen zur Folge haben.

Der Nährboden wird durch diskriminierende Gesetze und ihre Auslegung geschaffen. Das Bayerische Polizeigesetz beinhaltet umstrittene Regelungen zu Befugnissen der Polizei und führt zu diskriminierendem und rassistischem Vorgehen bei der Ausführung der Anweisungen, beispielsweise bei anlasslosen Personenkontrollen, dem Verwenden von Lagebildern, bei Kontrollen zu bestimmten Uhrzeiten oder an Orten, an denen sich viele Vertreter:innen vulnerabler Gruppen aufhalten etc,wie beispielsweise in Art.13, Absatz 1, Nr. 2c: (https://www.gesetze-bayern.de/Content/Document/BayPAG-13) und Art. 21, Absatz 1, Nr. 4 (https://www.gesetze-bayern.de/Content/Document/BayPAG-21). Ob Ethnic/ Racial Profiling tatsächlich zu weniger Kriminalität oder einer höheren Aufklärungsrate führt, ist nicht ausreichend erforscht. (vgl. EU MIDIS Studie https://fra.europa.eu/sites/default/files/fra_uploads/663-FRA-2011_EU_MIDIS_DE.pdf und https://fra.europa.eu/sites/default/files/fra_uploads/1133-Guide-ethnic-profiling_DE.pdf) In diesem Sinne müssen Rassismus und Vorurteile bei den Beamt:innen ganz besonders reflektiert und sie dahingehend bei der Aus- und Weiterbildung im Berufsleben geschult werden.

Der Schaden für Individuum, Gesellschaft und Polizei ist hoch:

Folgen für die Gesellschaft

  • Self-fulfilling prophecy: einschlägige Kontrollen führen zu einschlägigen Funden, was wiederum einschlägige Vorurteile bestärkt und zu mehr einschlägigen Kontrollen führt.
  • Das Misstrauen gegenüber Gemeinschaften von Menschen mit zugeschriebener Migrationsbiografie wächst, Vorurteile, Stigmata und Clichés verstärken sich.
  • Minderheiten können schwerer geschützt werden, dabei ist der Schutz von Minderheiten und vulnerablen Personengruppen die Pflicht des Staates.
  • Das Vertrauen von Minderheiten in den Rechtsstaat wird vermindert oder geschädigt.

Folgen für Betroffene

  • Gefühle der Ohnmacht, Willkür und Unsicherheit, Ungerechtigkeit, Hoffnungslosigkeit und Aussichtslosigkeit entstehen und wachsen.
  • Die Betroffenen erleben Chancenungleichheit in der Entwicklung und in ihrer Zukunftsperspektive.
  • Misstrauen in Systeme und Strukturen wird geschaffen und kann im äußersten Fall zu Auflehnung und Rebellion führen.
  • Erlebte Kriminalisierung, auch der Eltern und Bezugspersonen, erschwert die Identitätsfindung.
  • Rückzug in homogene Gruppen kann erfolgen.
  • Transgenerationale Traumata werden geschaffen und weitergegeben.
  • Geminderte Selbstwertgefühle, Selbstvertrauen, Selbstsicherheit oder die Annahme der Opferrolle können Konsequenzen sein.

Forderungen

„Die Europäische Kommission gegen Rassismus und Intoleranz (ECRI) des Europarates weist in ihrem im März 2020 erschienenen Bericht zu Deutschland zum wiederholten Mal darauf hin, dass keine ernsthaften Schritte erkennbar sind, um der Praxis des Racial Profiling entgegenzutreten“. (https://www.institut-fuer-menschenrechte.de/fileadmin/user_upload/Publikationen/Stellungnahmen/Stellungnahme_Racial_Profiling_Bund_Laender_muessen_polizeil_Praxis_ueberpruefen.pdf)

Der Bayerische Jugendring schließt sich den Forderungen aus den oben genannten Quellen an und fordert:

  • Die Durchführung einer Forschungsstudie zur Situation bzgl. Diskriminierung und Rassismus durch Ethnic/ Racial Profiling in Deutschland und den Bundesländern. Die Überprüfung, Anpassung und kritische Auseinandersetzung mit polizeilicher Praxis sollte selbstverständlich sein.
  • Die Überprüfung der gesetzlichen Regelungen, Befugnisse und Anweisungen auf ihre diskriminierende Wirkung – und Änderung derselben. Eine klare Haltung zu Rassismus mit klaren und wirksamen Konsequenzen und Sanktionen ist aufzuzeigen.
  • Die Einordnung von Ethnic/ Racial Profiling als strukturelle Diskriminierung. Es geht nicht darum, die Polizei unter Generalverdacht zu stellen, sondern Wirkungen von Maßnahmen, Regelungen, Anweisungen und Strukturen zu untersuchen.
  • Für rassistische Erlebnisse mit Polizist:innen gibt es aktuell keine anderen Stelle, bei der diese zur Anzeige gebracht werden kann, als die Polizei. Das hemmt Jugendliche eben solche Taten anzuzeigen. Deshalb muss eine unabhängige Ermittlungs- und Ombudsstelle geschaffen werden, um Rassismus und Gewalt durch Polizeibeamt:innen zu identifizieren, aufzuzeigen, offiziell zu registrieren, zu untersuchen und zu bekämpfen. Die Fälle, die die Ombudsstelle zur Anzeige bringt, müssen konsequent verfolgt und vor Gericht gebracht werden.  Nur auf diese Weise können die Betroffenen den Mut aufbringen, Straftaten anzuzeigen und sich selbst zu schützen. Und nur so können Beamt:innen, die rassistisches Verhalten ihrer Kolleg:innen nicht dulden und melden wollen, das tun ohne Konsequenzen zu fürchten. 
  • Eine Definition von Diskriminierung als Benachteiligung von Minderheiten und vulnerabler Gruppen. Es geht nicht darum, nur Rechtsextremismus, sondern auch alle Formen von Rassismen und Diskriminierungen bei Institutionen, Behörden und auch mitten in der Gesellschaft zu bekämpfen.
  • Nachhaltige Unterstützung von Beschwerde- und Meldestellen für Betroffene inkl. der Unterstützung bei Anzeigen, Einsatz von bezahlten Sprach- und Kulturmittler:innen.
  • Aufklärungskampagne, um die Betroffenen zu empowern, ihnen ihre Rechte und Handlungsmöglichkeiten aufzuzeigen und ihnen Möglichkeiten zu geben, sich selbst und ihre Angehörigen zu schützen.
  • Die Themen Diskriminierung, Rassismus und Ethnic/Racial Profiling in der Grundausbildung und Weiterbildung, sowie in der kontinuierlichen Fortbildung von Beamt:innen und Mitarbeiter:innen in öffentlichen Institutionen implementieren. Aufdeckung, Aufzeigen und Abschaffung von rassistischen und diskriminierenden Mechanismen in Institutionen und Behörden.
  • Die Durchführung gemeinsamer Projekte von Polizei und Zivilgesellschaft, z.B. durch Akteur:innen der Jugendarbeit, um Lösungen und Konzepte zu erarbeiten und gegenseitiges Verständnis zu fördern.
  • Maßnahmen und Projekte (Schulung, Coaching, Workshops, Konferenzen, Podiumsdiskussionen, Selbsthilfegruppen), um das Empowerment, das Vertrauen und die Selbstermächtigung der Betroffenen zu fördern, auszustatten und nachhaltig zu finanzieren.
  • Keine Repressalien, keine Androhungen von Sanktionen, keine Bestrafung bzw. Verfolgung und Diskriminierung von Mitgliedern der amtlichen und ehrenamtlichen Helfersysteme und Beratungsorgane. Auch andere Behörden und Institutionen sind dazu aufgefordert, ihre Strukturen auf rassistisches und diskriminierendes Verhalten und Praktiken zu überprüfen. 

 

Quellen

Deutsches Institut für Menschenrechte, Stellungnahme 2020 https://www.institut-fuer-menschenrechte.de/fileadmin/user_upload/Publikationen/Stellungnahmen/Stellungnahme_Racial_Profiling_Bund_Laender_muessen_polizeil_Praxis_ueberpruefen.pdf).

Handbuch „Für eine effektive Polizeiarbeit. Diskriminierendes ethnic Profiling erkennen und vermeiden“ der FRA - European Union Agency for Fundamental Rights (Die Agentur der Europäischen Union für Grundrechte)https://fra.europa.eu/sites/default/files/fra_uploads/1133-Guide-ethnic-profiling_DE.pdf

https://www.muenchen.de/rathaus/Stadtpolitik/Fachstelle-fuer-Demokratie/Materialien-und-Brosch-ren.html

(https://www.antidiskriminierung.org/neuigkeiten-1/2022/10/31/polizei-und-justiz-arbeiten-nicht-unabhngig-dies-besttigt-ein-aktuelles-urteil-des-europischen-gerichtshof-fr-menschenrechte-in-dem-fall-basu-v-germany-racial-profilingnbsp)

https://fra.europa.eu/sites/default/files/fra_uploads/663-FRA-2011_EU_MIDIS_DE.pdf

Patrick Wolf
er/ihm
Büroleiter und Queer-Beauftragter