Die Vollversammlung des Bayerischen Jugendrings positioniert sich mit diesem Beschluss zur Debatte um ein verpflichtendes Gesellschaftsjahr. Nach intensiver Befassung unterstützt der BJR als jugendpolitische Interessenvertretung der Jugendorganisationen in Bayern die Idee eines breit angelegten und auf Freiwilligkeit basierenden Gesellschaftsjahres und fordert einen Rechtsanspruch auf ein freiwilliges Gesellschaftsjahr mit attraktiven Rahmenbedingungen sowie den Ausbau der bestehenden Freiwilligendienste.
1. Kontext der Debatte
Nicht erst seit der Aussetzung der Einberufung zum Grundwehrdienst nach §5 Wehrpflichtgesetz zum 1. Juli 2011 gab es immer wieder politische Initiativen verschiedener Parteien oder auch einzelner Politiker:innen, ein verpflichtendes soziales Jahr, Gesellschaftsjahr, etc. einzuführen. Je nach aktuellem gesellschaftspolitischem Kontext unterscheiden sich die Zielsetzungen, die anvisierten Zielgruppen und die Argumentationslinien.
Im Hinblick auf die Zielsetzung eines sozialen Pflichtdienstes betont beispielsweise Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier die Förderung des sozialen Zusammenhalts in Deutschland und hier das Beschreiten neuer Wege, „um Entfremdung entgegenzuwirken“ . Die CDU hat sich im Mai 2024 auf ihrem Parteitag (gegen den Widerstand der jungen Union) für ein verpflichtendes Gesellschaftsjahr ausgesprochen sowie für eine stufenweise Rückkehr zur allgemeinen Wehrpflicht. In dieser Debatte stand vor allem die Stärkung der Bundeswehr im Fokus. Der CSU-Fraktionsvorsitzende Klaus Holetschek hat sich in einer Pressemitteilung im Juli 2024 für ein Gesellschaftsjahr ausgesprochen und dabei die Vermittlung von Werten, Respekt, Bewusstsein für gesellschaftlichen Zusammenhalt sowie die Bekämpfung des Fachkräftemangels als zentrale Ziele angeführt. Vertreter:innen verschiedener zivilgesellschaftlicher Organisationen sowie einzelne Politiker:innen unterschiedlicher Parteien betonen die möglichen positiven Wirkungen, die ein sozialer Pflichtdienst für die Stärkung des Ehrenamts haben könnte.
Die grundlegende Argumentationslinie der Befürwortenden ist die Analyse von Mängeln, wie z.B. zahlreiche offene Stellen bei der Bundeswehr, der große Mangel an Fachkräften in sozialen Berufen, rückläufige Zahlen von Menschen, die sich ehrenamtlich in Organisationen engagieren oder auch einfach ganz allgemein ein „gefühlter“ Rückgang von sozialen Zusammenhalt in der Gesellschaft. Diese Mängel sollen mit einem Pflichtdienst behoben werden, entweder indirekt, wenn die dienstverpflichteten Menschen im Rahmen ihrer Tätigkeit Berufe und Tätigkeiten kennenlernen und dann möglicherweise Gefallen daran finden und im Feld tätig/engagiert bleiben, oder direkt als ganz konkrete Entlastung der Fachkräfte z.B. im Pflege- oder Kita-Bereich. Übergeordnet ist dabei der Gedanke, dass - abgesehen vom konkreten Berufsfeld oder vom spezifischen Ehrenamt ganz allgemein - über die gemachten Erfahrungen in einem Gesellschaftsjahr das soziale Bewusstsein und die Bereitschaft zum gesellschaftlichen Engagement an sich gesteigert werden.
Bei der Frage der Zielgruppe wird teilweise von einem altersunabhängigen Pflichtdienst gesprochen (z.B. Bundespräsident Steinmeier). Meist werden jedoch im politischen Diskurs junge Menschen als potentielle Pflichtdienstleistende gedacht und adressiert. Dabei kommen sie in den Debatten entweder als desinteressierte Subjekte vor, die an gesellschaftliches Engagement herangeführt werden müssten, oder als orientierungslose Subjekte, denen durch ein soziales Pflichtjahr Orientierung gegeben werden könne oder als undankbare Subjekte, die begreifen müssten, dass der Staat keine Selbstverständlichkeit sei und sie über den Pflichtdienst lernen könnten, ihren Teil beizutragen und der Gesellschaft "etwas zurückzugeben“.
Widerspruch kommt in der Debatte um das verpflichtende Gesellschaftsjahr von verschiedenen Seiten und auf verschiedenen Ebenen. Die Wohlfahrtsverbände haben sich auf Bundesebene immer wieder gegen ein soziales Pflichtjahr ausgesprochen und unter anderem argumentiert, dass dies die strukturellen Probleme wie Unterfinanzierung und Fachkräftemangel nicht lösen würde. Einzelne Politiker:innen verschiedener Parteien verweisen auf verfassungsrechtliche Probleme, da das Grundgesetz Zwangsarbeit verbietet (Art.12, Abs. 2). Die Träger:innen von Freiwilligendiensten verweisen auf die bestehende Infrastruktur der verschiedenen Freiwilligendienste und plädieren für den Erhalt und den Ausbau dieser Strukturen anstelle eines verpflichtenden Gesellschaftsjahres. Der Deutsche Bundesjugendring sowie einzelne Landesjugendringe haben sich ebenfalls ablehnend gegen eine Einführung eines Pflichtdienstes positioniert.
2. Freiwilligkeit ist die Basis für gesellschaftliches Engagement und Ehrenamt
Es besteht breiter Konsens darüber, dass soziales und politisches Engagement sowie die Bereitschaft zur Übernahme von Ehrenämtern wesentliche Fundamente für das Funktionieren und den Zusammenhalt unserer Gesellschaft darstellen. Dies zu fördern und geeignete Rahmenbedingungen hierfür zu schaffen, ist Aufgabe der Politik. Aus guten Gründen und in Abgrenzung zum Pflichtgedanken gegenüber der Gemeinschaft, wie er grundlegend für das nationalsozialistischen Staatswesen war, werden Zwangsdienste nach Art. 2, Abs. 2 Grundgesetz- mit Ausnahme der Wehrpflicht - untersagt. Dies ist ein verbreitetes Element liberaler Demokratien und ist in den verschiedenen internationalen völkerrechtlichen Abkommen wie der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten des Europarates (EMRK), dem Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte (IPBPR) oder auch dem Übereinkommen der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) festgehalten.
In Deutschland engagierten sich 2019 insgesamt 39,7% der Menschen ab 14 Jahren freiwillig und von diesen Engagierten übernahmen 26,3% ein Ehrenamt, also eine Leitungs- oder Vorstandsposition. Die Formen und Felder des Engagements sind vielfältig: Sport und Bewegung, Kultur, Musik, politische Parteien/Bewegungen, Tierschutz, Naturschutz, Bildung, usw. sind häufige Betätigungsbereiche. Dass das Engagement Spaß macht und auf freiwilliger Basis passiert, erscheint maßgeblich.
Nur 7,3% der jungen Menschen im Alter zwischen 16 und 25 Jahren sind nicht bereit, sich in ihrer Freizeit zu engagieren.
Auch wenn die Intensität des Engagements anscheinend zurückgeht und auch die Bereitschaft zur Übernahme von Ehrenämtern tendenziell leicht nachlässt, so übernimmt doch ein großer Teil der Bevölkerung Deutschlands Verantwortung für das Gemeinwesen und es stellt sich die Frage, ob die Ursachen für das oft genannte Gefühl eines schwindenden gesellschaftlichen Zusammenhalts möglicherweise woanders zu suchen sind.
Die positiven Erfahrungen von Jugendleiter:innen und Freiwilligendienstleistenden im Hinblick auf die wertvollen sozialen Erfahrungen lassen sich nicht ohne weiteres auf die Situation eines Pflichtdienstes übertragen. Nachhaltige Lernerfahrungen gelingen dann gut, wenn eine positive Grundmotivation mit unterstützenden Strukturen und authentischen Mitgestaltungsmöglichkeiten zusammentreffen. Zwang und Pflicht erschweren nachhaltige Lernprozesse mehr, als dass sie diese befördern. Wer nicht zur Erbringung gesellschaftsförderlicher Leistungen bereit ist, kann dazu erst recht nicht durch einen Pflichtdienst „motiviert“ werden. Gesellschaftlicher Zusammenhalt und Gemeinsinn lassen sich mit einem Pflichtdienst also nicht erzwingen - im Gegenteil, es sind kontraproduktive Effekte zu befürchten. Nur wer sich freiwillig für ein Engagement entschiedet, kann selbstbestimmt positive Erfahrungen sammeln und diese in eine konstruktive Haltung gegenüber dem Gemeinwesen integrieren.
3. Potentiale eines Gesellschaftsjahrs
Der Bayerische Jugendring begrüßt die Debatte um das verpflichtende Gesellschaftsjahr ausdrücklich, denn sie deckt einerseits Problemlagen auf, die politisches Handeln erfordern und andererseits rückt sie einen wesentlichen gesellschaftlichen Bereich stärker in die öffentliche Wahrnehmung. Die Debatte ist jedoch vor allem auf die Frage von Sinn und Nutzen einer Dienstpflicht im Verhältnis zu einem freiwilligen Gesellschaftsjahr zu führen:
Die folgenden Aussagen sind verschiedenen Positionspapieren und Pressemitteilungen unterschiedlicher Parteien und Verbände entnommen, teilweise paraphrasiert und zugespitzt, um die Kernaussagen zu verdeutlichen. Sie spiegeln die möglichen oder vermeintlichen Potentiale eines Gesellschaftsjahres wider und werden aus der Sicht der bayerischen Jugendarbeit folgendermaßen bewertet:
„Ein verpflichtendes Gesellschaftsjahr stärkt das Bewusstsein junger Menschen für soziale Verantwortung und gesellschaftliche Solidarität.“
Zweifelsohne stärkt die Begegnung von Menschen unterschiedlicher Milieus das soziale Bewusstsein und kann zu mehr gesellschaftlicher Solidarität führen. Gesellschaftlicher Zusammenhalt lässt sich allerdings nicht mit einer Verpflichtung durch den Staat erzwingen. Die intrinsische Motivation hierfür muss schon im Ausgangspunkt vorhanden sein. Es besteht sonst die Gefahr, dass sich bei den jungen Menschen Widerstände aufbauen und, insbesondere nach den Jahren der Corona-Pandemie, könnte das Gesellschaftsjahr als weiteres „verlorenes Jahr“ betrachtet werden. Es existieren bereits vielfältige Freiwilligenprogramme im sozialen und ökologischen Bereich sowie internationale Austauschprogramme, die genau dieses Anliegen verfolgen und somit konsequenterweise ausgebaut, finanziell gestärkt und besser zugänglich gemacht werden sollten. Die Vorstellung, dass ein verpflichtendes Gesellschaftsjahr die (sozial) fragmentierte Gesellschaft kitten könnte, zielt an den eigentlichen gesellschaftlichen Problemen vorbei: Die tiefer werdende Kluft zwischen Arm und Reich und die zunehmend ungleichen Teilhabe- und Bildungschancen großer Teile der Bevölkerung sind die entscheidenden Themen, zu deren Lösung ein Pflichtdienst an der Gemeinschaft kein Beitrag sein würde.
„Ein verpflichtendes Gesellschaftsjahr könnte langfristig das allgemeine gesellschaftliche Engagement erhöhen. Wer in jungen Jahren positive Erfahrungen im Ehrenamt sammelt, ist eher geneigt, sich auch später im Leben freiwillig zu engagieren.“
Um sich für eine Sache zu engagieren und ggf. auch ein Ehrenamt in einer Organisation zu übernehmen, muss die Sache und die Organisation zunächst kennengelernt werden. Ein Gesellschaftsjahr hat hier das Potential vielen jungen Menschen Themen und Organisationen bekannt zu machen und wahrscheinlich würden auch sog. „Hafteffekte“ als Kollateralnutzen eintreten, also teilweise Engagement über die Zeit des Gesellschaftsjahres hinaus passieren.
Ein verpflichtendes Gesellschaftsjahr könnte allerdings den gegenteiligen Effekt haben, dass sich junge Menschen denken: „So, jetzt hab ich ein Jahr meines Lebens opfern müssen - das reicht jetzt an Dienst an der Gemeinschaft für mein restliches Lebens.“ Ein Ehrenamt kann niemandem aufgezwungen werden, sondern ist immer Ergebnis der individuellen Entscheidung für eine bestimmte Sache, von der schon vorher bekannt ist, dass sie Spaß machen wird, wertvoll für die Gemeinschaft sein wird, usw. Die darin gesammelten positiven ersten Erfahrungen bilden die Grundlage für die Bereitschaft, sich auch weiterhin ehrenamtlich zu engagieren.
Wenn also das Ziel ist, die Engagementquote in der Gesellschaft zu erhöhen, dann müssen konsequenterweise die Strukturen und die finanzielle Ausstattung der Organisationen gestärkt werden, in denen junge Menschen sich engagieren und Ehrenämter übernehmen können. Engagement und Ehrenamt brauchen organisatorische, fachliche und zwischenmenschliche Begleitung und Unterstützung, die wiederum von hauptamtlichen Fachkräften geleistet werden muss. Weiterhin bedarf es guter Rahmenbedingungen für das Ehrenamt, auch von staatlicher Seite wie z.B. Ausweitung von Freistellungsansprüchen, finanzielle Entlastungen, etc.
"Ein verpflichtendes Gesellschaftsjahr wird auch junge Menschen inkludieren, die sonst keinen Freiwilligendienst absolvieren würden.“
Das Gesellschaftsjahr würde auch junge Menschen aus bildungsferneren Schichten inkludieren, die bisher in den Freiwilligendiensten eher unterrepräsentiert sind. Allerdings könnte deren Einbezug auch durch eine bessere und intensivere Information über die Freiwilligendienste an allen Schulen und Schularten sowie durch eine bessere finanzielle Ausstattung erreicht werden. Die geringe finanzielle Entlohnung verhindert die Teilnahme jungen Menschen an Freiwilligendiensten, die von ihren Familien nicht zusätzlich finanziell unterstützt werden können.
„Mit der Einführung eines Gesellschaftsjahres wird das Bewusstsein und die Akzeptanz für demokratische Strukturen als Grundlagen des Gemeinwesens gestärkt und es könnten so wieder mehr Menschen für politische Ehrenämter gewonnen werden.“
Hier wird eine Kausalität unterstellt, die es so nicht gibt. Ursächlich für die Problematik, dass in vielen Gemeinden zu wenige Menschen für den Gemeinderat oder Bürgermeisterposten kandidieren, ist nicht fehlendes Bewusstsein für politische Zusammenhänge oder mangelnde Akzeptanz demokratischer Strukturen. Vielmehr fühlen sich die ehrenamtlichen Kommunalpolitiker:innen von hohen bürokratischen Anforderungen, Zeitdruck, Finanzproblemen in den Kommunen belastet. Außerdem spielen zunehmend auch Beleidigungen und Angriffe durch Bürger:innen eine Rolle.
Die Einführung eines verpflichtenden Gesellschaftsjahres würde keines dieser Probleme lösen oder verbessern können.
Angesichts der politischen Entwicklungen der letzten Jahre teilt der BJR die Einschätzung, dass die Demokratie/die demokratische Kultur in Gefahr ist. Einerseits vergiften rechtsradikale Bewegungen und Parteien den politischen Diskurs und schaffen ein Klima der Angst und der Spaltung. Andererseits wachsen die Sorgen, nicht nur der jungen Menschen, in der Bevölkerung angesichts von multiplen Krisen und finanziellen Sorgen. Anstatt einer Dienstverpflichtung junger Menschen braucht es vielmehr mehr Partizipation und kluge und weitsichtige Entscheidungen der politischen Akteure aller Ebenen, die geeignet sind, den aktuellen Krisen zu begegnen und langfristig Vertrauen in die politischen Strukturen des Gemeinwesens sowie in deren politische Vertreter:innen wieder aufzubauen.
„Die Einführung eines Gesellschaftsjahres kann helfen, den Fachkräftemangel zu bekämpfen und soziale Einrichtungen und Organisationen entlasten.“
Bereits jetzt unterstützen Freiwillige im Freiwilligen Sozialen Jahr (FSJ), im Freiwilligen Ökologischen Jahr (FÖJ), im Europäischen Freiwilligendienst (EFD) oder im altersunabhängigen Bundesfreiwilligendienst (BFD) die Mitarbeitenden in sozialen Einrichtungen und Organisationen. Sie ersetzen jedoch keine Fachkräfte und sollen das auch gar nicht, denn die Freiwilligeneinsatzstellen sind ganz bewusst und korrekterweise arbeitsmarktneutral gestaltet. Die Menschen, die sich ganz bewusst und auf freiwilliger Basis für ein soziales Jahr in einer Pflegeeinrichtung oder in einer Kindertagesstätte entscheiden, können die Fachkräfte sicherlich in gewissem Maße auch unterstützen. Ob zwangsverpflichtete Menschen hier eine große Unterstützung darstellen würden, erscheint zumindest zweifelhaft. Die Betreuung von kranken und pflegebedürftigen Menschen oder auch die Betreuung von Kindern sollte nicht in die Hände von Menschen gelegt werden, die diese Aufgabe nur widerwillig ausüben. Es ist außerdem anzunehmen, dass Organisations- und Betreuungsaufwand in keinem angemessenen Verhältnis zum Nutzen stehen würde und die große Anzahl an Gesellschaftsjahrleistenden gar nicht administriert, angeleitet und betreut werden könnte. Es ist eine große und dringende politische Aufgabe, den Fachkräftemangel zu bekämpfen, allerdings sollten hier eher die sozioökonomischen Rahmenbedingungen, also Arbeitszeiten, Entlohnung, gesellschaftliche Stellung, Arbeitsbedingungen, Zugänge für Quereinsteiger usw. betrachtet und verbessert werden, damit Fachkräfte qualifiziert und gewonnen werden.
„Ein Gesellschaftsjahr könnte dazu beitragen, die gesellschaftliche Wertschätzung für soziale Berufe zu erhöhen, indem mehr Menschen die Bedeutung und Herausforderungen dieser Arbeit aus erster Hand erleben.“
Auch hier ist implizit der Fachkräftemangel in den sozialen Berufen angesprochen. Dass sich nicht genügend Menschen finden, Berufe im sozialen Bereich zu ergreifen, liegt sehr wahrscheinlich nicht an der fehlenden gesellschaftlichen Wertschätzung dieser Tätigkeiten, sondern vielmehr an der Bezahlung und den arbeitsorganisatorischen Rahmenbedingungen, die oft mit besonderen physischen und psychischen Belastungen einhergehen, aufgrund von Schichtdiensten, hoher Arbeitslast und Zeitdruck. Ein Pflichtjahr in einem überlasteten Krankenhaus oder in einer unterbesetzten Pflegeeinrichtung wird weder Personallücken schließen, noch den Patient:innen und Bewohner:innen gerecht werden oder Lust auf eine Karriere in diesem Bereich machen.
„Ein Gesellschaftsjahr bietet jungen Menschen die Möglichkeit, persönliche Fähigkeiten und soziale Kompetenzen zu entwickeln.“
Persönliche Fähigkeiten und soziale Kompetenzen können auf vielfältige Weise weiterentwickelt werden, etwa in Schule, in Ausbildung, im Studium, im Ehrenamt, im Freiwilligendienst usw. Hierfür bedarf es keines verpflichtenden Gesellschaftsjahrs, denn die jungen Menschen, die bereit dazu sind, ihre Fähigkeiten und sozialen Kompetenzen zum verbessern, finden bereits jetzt genügend Möglichkeiten hierfür. Diejenigen, die hierfür aus verschiedenen Gründen nicht bereit sind, kann eine solche Entwicklung auch nicht aufgezwungen werden und wäre im Hinblick auf deren Entwicklungsprozess auch kontraproduktiv. Im Übrigen sind die bestehenden Freiwilligendienste bereits jetzt schon mit Bildungsanteilen konzipiert, um sicherzustellen, dass der Aspekt der Weiterentwicklung von persönlichen Fähigkeiten und sozialen Kompetenzen zum Tragen kommt.
„Ein Gesellschaftsjahr kann jungen Menschen helfen, ihre Interessen zu entdecken, Orientierung über ihren zukünftigen beruflichen Weg zu gewinnen und würde die Jugendarbeitslosigkeit senken. "
Die bestehenden Formate an Freiwilligendiensten zeigen, dass diese nützlich für individuelle berufliche Orientierung sein können und ein Teil der Freiwilligen entscheidet sich tatsächlich für eine Ausbildung oder ein Studium im sozialen Sektor. Allerdings gibt es auch junge Menschen, die schon sehr früh eine Entscheidung für ihre berufliche Zukunft getroffen haben und schlichtweg keinen Bedarf an einem Orientierungsjahr haben. Gerade im Hinblick auf den bestehenden Fachkräftemangel in zahlreichen Branchen wäre es volkswirtschaftlich unvernünftig, diese jungen Menschen ein Jahr lang dem Arbeitsmarkt vorzuenthalten. Außerdem würde dies zu einer späteren finanziellen Unabhängigkeit und geringeren Beiträgen in die Rentenversicherung führen.
Eine hohe Jugendarbeitslosigkeit ist seit Jahren schon kein akutes Thema mehr in Deutschland, da es rechnerisch mehr Ausbildungsstellen gibt als Bewerber:innen. Problematisch ist allerdings die Situation von Jugendlichen mit besonderen Unterstützungsbedarfen, die über den normalen Arbeitsmarkt keine passende Ausbildungsstelle finden. Für sie wäre auch ein Gesellschaftsjahr keine wirkliche Hilfe, sondern es würde lediglich die Statistik schönen. Stattdessen müssen die Angebote der arbeitsweltbezogenen Jugendsozialarbeit gestärkt werden, die sich individuell mit pädagogischer und psychologischer Unterstützung um deren Berufsausbildung kümmern.
„Ein Gesellschaftsjahr fördert das Bewusstsein für ökologische Themen und trägt zum Umweltschutz/Klimaschutz bei.“
Rund 3.200 junge Menschen in Deutschland machten 2023/2024 ein FÖJ und dies ist sicherlich ein guter Beitrag für ein verbessertes Bewusstsein für ökologische Themen. Allerdings stehen den 3.200 Einsatzstellen fast 11.000 Bewerbungen gegenüber. Die hohe Nachfrage nach FÖJ-Plätzen deutet auf ein ausgeprägtes Bewusstsein für ökologische Themen bei einem großen Teil junger Menschen hin. Inwiefern hier ein verpflichtendes Gesellschaftsjahr einen zusätzlichen Beitrag leisten könnte, ist unklar. Bildung für nachhaltige Entwicklung ist in den Lehrplänen der Schulen fest verankert und somit als Thema jedem jungen Menschen zugänglich gemacht. Wer sich in diesem Bereich dann zusätzlich gesellschaftlich engagieren möchte, dem stehen zahlreiche Möglichkeiten offen, wie ein FÖJ oder die Mitarbeit in (Jugend-)Verbänden, Umweltinitiativen, usw.
„Ein verpflichtendes Gesellschaftsjahr könnte der Bundeswehr bei der Besetzung der offenen Stellen helfen.“
Seit der Aussetzung der Einberufung zum Wehrdienst 2011 hat die Bundeswehr Nachwuchssorgen. Trotz intensiver Werbemaßnahmen an Verbrauchermessen in ganz Deutschland und einem breit angelegten Informationsprogramm an Schulen gab es 2022 rund 25.000 offene Stellen. Angesichts des Kriegs in der Ukraine und damit einhergehend einer neuen Bedrohungslage in Europa hat dieses Problem eine neue Brisanz bekommen und wird nun auch im Zusammenhang mit dem verpflichtenden Gesellschaftsjahr debattiert.
Es ist nicht davon auszugehen, dass die Einführung eines verpflichtenden Gesellschaftsjahres die Anzahl der offenen Stellen bei der Bundeswehr signifikant senken wird. Erstens haben junge Menschen bereits jetzt die Möglichkeit, einen freiwilligen Wehrdienst von 12 Monaten abzuleisten, davon 7 Monate am Stück und nach der Grundausbildung dann die restlichen 5 Monate als Reservist:innen. Das Gehalt der derzeit rund 8.000 - 9.000 freiwillig Wehrdienstleistenden beträgt dabei etwa das vier- bis fünffache bei anderen Freiwilligendiensten zuzüglich weiterer Vergünstigungen, wie z.B. die kostenfreie Nutzung des Nah- und Fernverkehrs. Sowohl die Informationsstruktur, als auch die finanziellen Rahmenbedingungen sind also so gut aufgestellt, dass davon auszugehen ist, dass beinahe jeder junge Mensch, der zur Bundeswehr gehen möchte, dies auch bereits tut.
Auch wenn die freiwillig Wehrdienstleistenden eine Grundausbildung absolvieren, so ersetzen sie dennoch keine Stellen von Berufssoldat:innen. Hier erhofft man sich wieder „Klebeeffekte“, die über den freiwilligen Dienst für einen Einstieg in eine Berufssoldatenkarriere sorgen könnten, wobei quantitativ betrachtet von relativ geringem Kollateralnutzen ausgegangen werden muss.
4. Fazit
Die bayerische Jugendarbeit steht für die Grundprinzipien der Freiwilligkeit und Selbstbestimmung. Sie ist eine Werk- und Wirkstätte der Demokratie. Junge Menschen engagieren sich aus dem Bedürfnis heraus, etwas bewegen zu wollen und gesellschaftliche Teilhabe zu erleben. Eine Leistungspflicht konterkariert diese Motivation. Junge Menschen müssen und sollten nicht zwangsverpflichtet werden, denn sie engagieren sich bereits freiwillig in vielfältiger Weise in Vereinen und Initiativen. Dabei ist die höchste Engagementquote in der Altersgruppe der 14- bis unter 20-Jährigen zu verzeichnen: Hier engagiert sich nahezu jeder zweite junge Mensch.
Eine Verpflichtung zu einem Gesellschaftsjahr stellt einen staatlichen Eingriff in die persönliche Freiheit und Autonomie der jungen Menschen dar. Jede:r sollte auch weiterhin das Recht haben, selbst zu entscheiden, wie die Zeit des Übergangs von Schule ins Berufsleben gestaltet wird. Statt ihnen Pflichtdienste aufzuerlegen, sollten ihnen Möglichkeiten und Inspirationen zur persönlichen Entwicklung gegeben werden. Freiwilligendienste und Engagementmöglichkeiten müssen aus der Sicht von jungen Menschen gedacht werden und niedrigschwellige Zugangsmöglichkeiten bieten.
Es ist weiterhin wichtig, dass junge Menschen nicht als kostengünstiger Ersatz für qualifiziertes Personal in Bereichen wie Pflege oder Erziehung angesehen und eingesetzt werden. Das würde den Sinn eines solchen Gesellschaftsjahrs untergraben und auch die Gefahr eines missbräuchlichen Einsatzes dieser Arbeitskräfte erhöhen. Der Fachkräftemangel ist eine dringliche Aufgabe der Politik und der Regierungen, die hier an den eigentlichen Ursachen ansetzen müssen.
Der Fokus der Debatte um das Gesellschaftsjahr sollte auf der angemessenen Finanzierung und Stärkung der bestehenden Freiwilligendienste (Bundesfreiwilligendienst (BFD), Freiwilliges soziales Jahr (FSJ), Freiwilliges ökologisches Jahr (FÖJ) sowie weiterer nicht bundesgesetzlich geregelter Formen wie der Europäische Freiwilligendienst, Weltwärts, Kulturweit, Internationaler Jugendfreiwilligendienst, etc. liegen. Die bestehenden Freiwilligendienste müssen sowohl für die Träger, als auch für die Freiwilligen angemessen ausgestattet werden. Die Einführung eines verpflichtenden Gesellschaftsjahres würde erhebliche organisatorische und finanzielle Herausforderungen mit sich bringen. Es müssten zahlreiche neue Einsatzstellen geschaffen und verwaltet werden, was einen erheblichen bürokratischen und finanziellen Aufwand bedeuten würde.
Mit den Freiwilligendiensten existiert bereits ein bewährtes und hervorragend funktionierendes Angebot, das die erwarteten positiven Wirkungen eines verpflichtenden Dienstes bereits erfüllt. Durch eine bessere Förderung der bestehenden Strukturen, durch eine bessere und gezieltere Ansprache der Zielgruppe und durch die Steigerung der Attraktivität mit besseren Rahmenbedingungen könnte die Zahl der Freiwilligendienstleistenden erheblich gesteigert werden - zu einem Bruchteil der Kosten eines verpflichtenden Gesellschaftsjahres.
5. Forderungen für ein wirkungsvolles freiwilliges Gesellschaftsjahr
Statt einer Verpflichtung zur Leistung eines Gesellschaftsjahres fordert der BJR das Schaffen von Rahmenbedingungen für ein abgesichertes und zugängliches freiwilliges Gesellschaftsjahr für alle interessierten jungen Menschen. Zur weiteren Umsetzung und konkreten Realisierung schließen sich folgende Forderungen an: