Mehrere juna-Hefte liegen aufeinander. Sie zeigen ein trauriges Mädchen-Gesicht.

juna #1.23Armut

Das ist echt arm – Ungerechtigkeit beginnt in der Kindheit

Ein Junge sitzt einsam auf einer Bank. Den Kopf gesenkt.

"Ein Langzeitskandal"

Die Zahl der armen Kinder hatte zuletzt einen historischen Höchststand erreicht – und wegen Inflation und Energiepreiskrise spitzt sich das Problem weiter zu. Der renommierte Politikwissenschaftler und Armutsforscher Prof. Dr. Christoph Butterwegge erklärt im Interview, wieso sich die Schere zwischen arm und reich immer weiter öffnet, was dagegen getan werden müsste – und wieso Kinder und Jugendliche am meisten unter Armut leiden.

Professor Butterwegge, Sie beschäftigen sich seit mehr als einem Vierteljahrhundert mit Kinderarmut. Haben Sie zuletzt so viele Interviewanfragen bekommen wie nie zuvor?

Zumindest waren es mehr als sonst, denn das Thema, mit dem man mich häufig identifiziert, ist durch die Pandemie, die Energiepreisexplosion und die Inflation stärker ins Blickfeld der Öffentlichkeit gerückt. Das gilt für die Armut im Allgemeinen und Kinderarmut im Besonderen. Familien sind von den steigenden Lebenshaltungskosten stark betroffen und man schaut eher auf die Kinder, weil sie mehr Mitgefühl erregen. Ich bin allerdings der Meinung, dass jede Armut ein Verstoß gegen das Grundgesetz ist. „Die Würde des Menschen ist unantastbar“, so steht es in Artikel 1 unserer Verfassung. Und wer arm ist, dem widerfährt strukturelle Gewalt, die seine Menschenwürde verletzt.

Inwiefern leiden Kinder und Jugendliche anders an Armut als Erwachsene?

Viele Kinder, die in eine arme Familie hineingeboren werden, geraten in einen Teufelskreis. Aus dem armen Kind wird ein armer Jugendlicher und später ein armer Erwachsener, der wiederum arme Kinder bekommt. In eine solche Familie hineingeboren zu werden bedeutet, in allen Lebensbereichen benachteiligt zu sein, sowie schlechtere Bildungschancen und ein höheres Krankheitsrisiko zu haben. Außerdem sind Kinder noch nicht so resilient wie Erwachsene, die es gelernt haben, mit finanziellen Einschränkungen und Benachteiligungen umzugehen.

Nehmen Kinder ihre Lebensumstände nicht einfach als gegeben hin?

Oft ist das so, aber sie vergleichen sich auch immer mit anderen Kindern und verstehen noch nicht, dass Ungleichheit ein strukturelles Problem ist. In unserer Gesellschaft werden Armut und Reichtum als persönlich verschuldet beziehungsweise verdient betrachtet. Wer viel geleistet hat, wird wohlhabend, wer nichts geleistet hat, wird mit Armut bestraft das ist ein gängiges Narrativ, dem sich Kinder schwer entziehen können.

Ist Armut in einem Land wie Deutschland für Kinder also besonders schlimm?

Ja. Sie ist für die Betroffenen hier demütigender als dort, wo fast jeder arm ist. Mich ärgert, dass man so tut, als gäbe es „wirkliche Armut“ nur im globalen Süden, während bei uns nur auf hohem Niveau gejammert würde. In einem reichen Land arm zu sein kann viel erniedrigender
sein als in einem armen Land. Kinder aus einem Slum in Nairobi müssen sich nicht dafür rechtfertigen, dass ihre Familie arm ist. Taucht bei uns ein Jugendlicher auf dem Schulhof im tiefsten Winter in Sommerkleidung und Sandalen auf, wird er von den eigenen Klassenkameradinnen und -kameraden ausgelacht. Darunter leidet dieser Jugendliche viel mehr als unter der Kälte.

„Wir haben kein Geld für das Mittagessen.

Eine Jugendliche steht vor einem leeren Küchenschrank.

 

Inwiefern ist es ein Unterschied, ob arme Jugendliche in einer reichen Stadt wie München leben oder in einer strukturschwachen bayerischen Gegend?

Armut war immer ein urbanes Phänomen, breitet sich jedoch auch zunehmend auf dem Land aus. Arme im ländlichen Raum haben ein größeres Mobilitätsproblem. Vom 9-Euro-Ticket hat nur profitiert, wer dort lebt, wo ein öffentlicher Nahverkehr existiert. Arme in München dagegen haben eher das Problem, an vielen – etwa kulturellen – Angeboten nicht teilhaben zu können. Darunter leidet ein Stadtkind wahrscheinlich mehr als ein Kind im ländlichen Raum.

Kinder und Jugendliche sind arm, weil ihre Eltern arm sind. Welche Familien sind am meisten betroffen?

Arbeitslose haben das höchste Armutsrisiko. Es liegt mit mehr als 48 Prozent weit über dem Durchschnitt von 16,6 Prozent bei allen Gesellschaftsmitglieder. Bei den Alleinerziehenden – meistens Müttern – sind es über 41 Prozent.

Wie hat sich die Kinder- und Jugendarmut in den letzten Jahrzehnten in Deutschland entwickelt?

Sie ist stetig angestiegen und nach der Einführung von Hartz IV im Januar 2005 gab es einen deutlichen Sprung. Befanden sich im Dezember 2004 noch rund 1,1 Millionen Kinder und Jugendliche in der Sozialhilfe, bezogen wenige Jahre später über zwei Millionen Minderjährige Sozialgeld (Hartz IV).

Aber zuletzt ist die Zahl der Kinder im Hartz-IV-Bezug wieder von über zwei auf 1,76 Millionen gesunken.

Reformen der Bundesregierung wie das Starke-Familien-Gesetz haben zwar dazu geführt, dass mehr Eltern und vor allem Alleinerziehende ergänzende Sozialleistungen in Anspruch nehmen und damit aus Hartz IV herausfallen. Man bekämpft die Kinderarmut damit aber nicht an der Wurzel, sondern bloß oberflächlich, durch Bereinigung der Hartz-IV-Statistik.Gleichzeitig hat die Zahl der armen Kinder zuletzt einen historischen Höchststand erreicht – über 2,9 Millionen oder 20,8 Prozent der Kinder und Jugendlichen lebten 2021 hierzulande in „armutsgefährdeten“ – genauer: in einkommensarmen – Familien. Armut dringt in die Mitte der Gesellschaft vor, ohne dass gegen den Langzeitskandal der Kinderarmut vorgegangen wird.

Ein Mädchen sitzt allein auf einer Bank am Spielplatz und schaut traurig.

In dem Buch „Kinder der Ungleichheit“, das Sie mit Ihrer Frau Carolin Butterwegge geschrieben haben, schildern Sie, dass die Ungleichheit stark zugenommen hat. Was sind die Gründe dafür?

Ich sehe drei Aspekte, die hier eine Rolle spielen. Erstens die Deregulierung des Arbeitsmarktes: Haupteinfallstor der Armut ist der inzwischen 20 bis 25 Prozent aller Beschäftigten umfassende Niedriglohnsektor. Durch die Lockerungen beim Kündigungsschutz, die Liberalisierung der Leiharbeit, die Erleichterungen bei Werk- und Honorarverträgen sowie die Einführung von Mini- und Midijobs ist ein Arbeitsmarktsegment entstanden, in dem vor allem Frauen und Alleinerziehende arbeiten, das nicht zuletzt wegen der immer noch fehlenden Einrichtungen für die Kinderbetreuung.

Was ist die zweite Ursache für die wachsende Ungleichheit?

Die Demontage des Sozialstaates. So hat man mit Hartz IV die Arbeitslosenhilfe abgeschafft – eine den Lebensstandard von Langzeitarbeitslosen halbwegs sichernde Sozialleistung –, außerdem die meisten der wiederkehrenden einmaligen Leistungen, die für Familien extrem wichtig waren. War das Kind aus dem Wintermantel herausgewachsen, konnte es früher vom Sozialamt einen neuen bekommen. Wenn die Waschmaschine defekt war, gab es eine neue oder eine Beihilfe zur Reparatur. Heute muss das alles aus dem pauschalierten Hartz-IV-Regelbedarf bezahlt werden. Keine Familie spart für den Fall, dass ihre Waschmaschine kaputtgeht. Die Vorstellung, dass Arme überhaupt sparen, ist lebensfremd.

Ich darf nicht mit zum Wandertag, das ist zu teuer.

 

Und der dritte Grund?

Eine ungerechte Steuerpolitik. Man hat alle Kapital- und Gewinnsteuern entfallen lassen oder wie die Vermögensteuer seit 1997 einfach nicht mehr erhoben. Behielt man sie bei, wurden die Steuersätze kräftig gesenkt. Bei der Einkommensteuer liegt der Spitzensatz heute bei 42 Prozent und nur ganz wenige zahlen die Reichensteuer von 45 Prozent. Unter Helmut Kohl, der ja kein Kommunist war, lag der Spitzensatz noch bei 53 Prozent. Hingegen wurde jene Steuer, die die Armen am härtesten trifft – nämlich die Mehrwertsteuer –, von 16 auf 19 Prozent erhöht.

Wie hat sich das Problem der Kinderarmut seit Ausbruch der Pandemie entwickelt?

Sie hat sich deutlich verstärkt, ebenso die Ungleichheit. Einerseits hatten viele Familien hohe Einkommensverluste, etwa wegen Arbeitslosigkeit oder Kurzarbeit. Andererseits wurden einige Reiche noch reicher. Der Lidl-Besitzer Dieter Schwarz hat sein Privatvermögen laut dem USWirtschaftsmagazin „Forbes“ in der Pandemie-Zeit um 14,2 Milliarden US-Dollar erhöht, weil verstärkt beim Discounter eingekauft wurde. Die materielle Ungleichheit hat sich zudem in Wohn- und Bildungsungleichheit übersetzt. Kinder der Mittelschichtfamilien hatten ein eigenes Kinderzimmer und konnten digitale Endgeräte nutzen, die Kinder in einer Flüchtlingsunterkunft oder einer Hochhauswohnung eben nicht – so wurden sie in der Schule abgehängt. Dazu kam die gesundheitliche Ungleichheit.

Was bedeutet das?

Im Kölner Nobelviertel Hahnwald lag die Inzidenz auf dem Höhepunkt der Pandemie bei null, im Hochhausviertel Gremberghoven bei 717. Alle Erscheinungsformen der Ungleichheit basieren letztlich auf den materiellen Verhältnissen. Nötig wäre eine Umverteilung von oben nach unten, aber stattdessen wird lieber das Thema Bildung ins Schaufenster gestellt und zum Patentrezept erklärt, um Armut zu bekämpfen. Aber wenn alle Jugendlichen besser gebildet wären, würden sie womöglich nur auf einem höheren geistigen Niveau um die immer noch zu wenigen Ausbildungs- und Arbeitsplätze konkurrieren. Dann hätte man mehr Taxifahrer mit Hochschulabschluss, aber weder die Armut noch die sozioökonomische Ungleichheit beseitigt.

Meine Mama kann mir kein Kopiergeld mitgeben.

 

Wie und mit welchen Maßnahmen kann man denn gegensteuern?

Wenn meine Ursachenanalyse richtig ist, muss die Gegenstrategie auf drei Ebenen ansetzen: dem Arbeitsmarkt, der sozialen Sicherung und der Steuerpolitik. Erstens müsste der Arbeitsmarkt wieder stärker reguliert werden. Leiharbeit gehört verboten, Minijobs müssen sozialversicherungspflichtig werden und Befristungen,die vor allem Berufsanfänger:innen betreffen, sollte man einschränken. Die Erhöhung des Mindestlohns auf zwölf Euro war zwar richtig und wichtig, um die Kinderarmut zu verringern, allerdings ist dieser Betrag aufgrund der Inflation heute deutlich weniger wert als im Jahr 2017 – damals erklärte Olaf Scholz ihn erstmals für nötig. Zweitens müssten in eine solidarische Bürgerversicherung alle Menschen einzahlen, auch Selbstständige, Freiberufler:innen, Beamt:innen, Abgeordnete und Minister:innen. Warum aber sollten Kapitalerträge nicht beitragspflichtig werden? Die soziale Grundsicherung sollte bedarfsgerecht, armutsfest und repressionsfrei sein, also ohne Sanktionen auskommen. Drittens muss der Spitzensteuersatz steigen, wieder eine Abgabe auf große Vermögen fällig und die Erbschaftsteuer für Firmenerben angehoben werden. Mit der gegenwärtigen Steuerpolitik spaltet man die gesamte Gesellschaft und darüber hinaus die junge Generation.

* Diese Zitate von Schüler:innen stammen aus einer Umfrage der LAG Jugendsozialarbeit Bayern zu den Auswirkungen der Kostensteigerungen für Energie und Lebenshaltung in den Einrichtungen der bayerischen Jugendsozialarbeit vom Oktober 2022. www.lagjsa-bayern.de.

Der Experte

Portrait des juna-Autors Prof. Dr. Christoph Butterwegge
Prof. Dr. Christoph Butterwegge
Prof. Dr. Christoph Butterwegge hat von 1998 bis 2016 Politikwissenschaft an der Universität zu Köln gelehrt und zusammen mit seiner Frau Carolin Butterwegge das Buch „Kinder der Ungleichheit. Wie sich die Gesellschaft ihrer Zukunft beraubt“ (2021) veröffentlicht. Zuletzt ist von ihm das Buch „Die polarisierende Pandemie. Deutschland nach Corona“ (2022) erschienen

Ansprechperson

Karin Fleissner
Pressesprecherin