Verschiedene Schubladen stehen aufeinander. Darauf der steht: Rassismus ist überall

juna #3.21 Rassismus

Das Engagement gegen Rassismen und Diskriminierung muss bei uns selbst beginnen, denn wir alle leben in Strukturen, die Rassismus fördern können.

Identitätspolitik und Intersektionalität

Diese beiden Begriffe prägen seit einigen Jahren die Debatten um Rassismus und andere gesellschaftliche Diskriminierungen. Wie sind die Begriffe entstanden? Welche Inhalte sind mit ihnen verbunden? Und welche Perspektiven lassen sich aus ihnen für die Kinder- und Jugendarbeit ableiten?

von Julia Eder und Norman Escario

Die mediale Debatte um die sogenannte Cancel Culture als Reaktion auf die verbalen Ausfälle der Kabarettistin Lisa Eckhart im Sommer des Jahres 2020, die wütenden Reaktionen auf die Forderung nach Unisex-Toiletten, die nicht minder wütenden Reaktionen nach der Verwendung von gendersensibler Sprache in den „heute“-Nachrichten durch Petra Gerster, die Diskussion um die Aussage von Wolfgang Thierse („Ich bin mittlerweile zum Symbol geworden für viele normale Menschen, die ihre Lebensrealität nicht mehr gespiegelt sehen in der SPD, die unsicher sind, was sie noch sagen dürfen und wie sie es sagen dürfen.“¹): All das dreht sich irgendwie um die sogenannte Identitätspolitik. Was ist damit gemeint – und gibt es überhaupt die Identitätspolitik? Wieso werden diese Debatten so emotional geführt? Welche Narrative werden instrumentalisiert, vor allem von rechts? Und was sind dabei die speziellen Herausforderungen für die Kinder- und Jugendarbeit?

DIE URSPRÜNGE DES BEGRIFFS „IDENTITÄTSPOLITIK“

Erstmals tauchte Identitätspolitik als Begriff Ende der 1970er-Jahre in den USA auf: im Combahee River Collective, einem Kollektiv Schwarzer², lesbischer Frauen. Weil sie aufgrund der ihnen zugeschriebenen Kategorien „Schwarz“, „lesbisch“ und „Frau“ spezifische Diskriminierungserfahrungen machten, wollten sie genau diese Identitätskategorien politisch nutzen, um sich dagegen zu wehren. Diskriminierung funktioniert immer kollektiv: Individuen werden aufgrund scheinbar natürlicher Kategorien wie Geschlecht, Herkunft oder Hautfarbe einer bestimmten Gruppe zugeteilt und ihnen werden damit bewusst oder unbewusst bestimmte Eigenschaften zugeschrieben. Daraus wiederum werden vermeintlich naturgegebene Unterschiede sowie Hierarchisierungen abgeleitet und damit verbundene Machtverhältnisse legitimiert. Da die Gruppenzuordnung nicht durch die Betroffenen selbst erfolgt, soll mittels Identitätspolitik der Spieß quasi umgedreht werden: Die zugeschriebene Zuordnung zu einer Gruppe und spezifische geteilte Lebensrealitäten werden zur Grundlage dafür, sich zu verbünden, sich zu mobilisieren und gemeinsam vorzugehen, um Zuschreibungen und Diskriminierungen zu überwinden.

So bezog sich die sogenannte Frauenbewegung bereits zu ihrem Beginn im ausgehenden 19. Jahrhundert vor allem auf die Kategorie „Frau“, um sich unter dieser Zuschreibung zusammenzuschließen und sowohl Forderungen nach gesellschaftlicher Emanzipation zu stellen als auch die Abschaffung von Diskriminierung zu fordern. Dabei wurde strategisch vor allem auf ein Identitätsmerkmal Bezug genommen und in diesem Kontext mit einer Stimme gesprochen; die Vielfalt der übrigen Merkmale wurde zunächst einmal zurückgestellt. Gelebte oder erlebte Lebensrealitäten wurden zum Ausgangspunkt für politische Kämpfe um Anerkennung und Emanzipation.

WIESO EMANZIPATIONSBEWEGUNGEN DIE MEHRHEITSGESELLSCHAFT VERUNSICHERN

In der gesellschaftlichen Wahrnehmung wird die Forderung nach Anerkennung und Teilhabe mithilfe der strategischen Reduktion auf ein Merkmal, das innerhalb der Gruppe bestärkend und emanzipatorisch wirkt sowie Solidarität befördert, bisweilen als bedrohlich erlebt. Die Gruppe beansprucht plötzlich mit Vehemenz ein „Stück vom Kuchen“. Die Gruppen der Mehrheitsgesellschaft, die traditionell Deutungshoheit haben und auf der Seite der Mehrheiten stehen, sehen sich aufgrund ihrer Merkmale nicht als Teil dieser Gruppe. Zwar darf die Forderung nach Teilhabe – nach einem Stück vom Kuchen – objektiv in einer demokratischen und menschenrechtsorientierten Gesellschaft nicht verwehrt werden. Doch bisweilen löst sie subjektiv Angst um die eigene Vorherrschaft sowie vor dem Verlust von Privilegien aus und führt somit auch im demokratischen Milieu zu Verunsicherung, im antipluralistischen Spektrum sogar zu Aggression.

Diese Emotionen prägen immer wieder sowohl die gesamtgesellschaftliche Debatte als auch die Auseinandersetzungen innerhalb demokratischer Parteien und in Organisationen wie Gewerkschaften. Das erklärt, warum das Umsetzen von Teilhabe und Gleichberechtigung immer auch mit Aushandlungsprozessen verbunden ist. Bisweilen geht allerdings unter, welche Stimmen in dieser Gesellschaft vor allem gehört werden, wer repräsentiert wird und wer die Deutungshoheit innehat – oder anders formuliert: wer Teil einer omnipräsenten und machtvollen Dominanzgesellschaft ist und wer eben stets aufs Neue ausgeschlossen und damit unsichtbar bleibt.

IDENTITÄTSPOLITIK ALS KAMPFBEGRIFF VON RECHTS

Das Konzept der Identitätspolitik oder vielmehr Identitätspolitiken wird auch von der politischen Rechten verwendet, zum einen als Kampfbegriff gegen linke Politik, die sich angeblich nicht um die Bedürfnisse der „deutschen Bevölkerung“ kümmere, sondern sämtlichen Minderheiten Rechte einräumen will. Zum anderen interpretieren Rechte Identitätspolitik im Rahmen völkischer Konzepte für sich. Identität wird in dieser Lesart als essentialistische und damit unveränderliche Kategorie eines ethnisch definierten Volkes verstanden. Verschwörungsideologisch werden zudem global einflussreiche Minderheiten ausgemacht, die angeblich Politik gegen den kleinen weißen Mann – den „Normalbürger“ – betreiben. Die Feindbilder sind dann situationsabhängig der Feminismus, die Black-Lives-Matter-Aktivist:innen oder andere Gruppen. Die Forderungen nach Anerkennung „der anderen“ werden zur Bedrohung umgedeutet, um sich selbst in die Opferrolle zu bringen und in der gleichen Argumentation für sich als „Minderheit“ Rechte und Respekt einzufordern.

Aus demokratischer Perspektive ist das Konzept Identitätspolitik neben seinem emanzipatorischen Moment differenziert zu betrachten. Wenn Identität ähnlich dem völkischen Konzept der extremen Rechten als etwas Starres und Unveränderliches angesehen wird, führt das dazu, dass nicht mehr pluralistisch über Ziele und Inhalte diskutiert werden kann: Es wird, so Samuel Salzborn, „alles und jede:r auf eine vermeintliche Identität und hierarchische, antiemanzipative Vorstellungen von irreversiblen ‚Sprechorten‘ innerhalb von Gesellschaften“ reduziert.³ Dadurch würde die erstrebte Emanzipation und Solidarität in der Gesellschaft ersetzt durch Ausschluss. Das Sprechen aus einer bestimmten Position heraus, zum Beispiel als von Rassismus Betroffene, heißt aber gerade nicht, dass die zugeschriebene Erfahrung bei allen Gruppenmitgliedern deckungsgleich ist. Sie muss auch nicht von allen betreffenden Personen in gleicher Weise wahrgenommen werden. Und sie ist nicht starr. Identität ist immer etwas Veränderbares, Zusammengesetztes und Konstruiertes.

DER BEGRIFF „INTERSEKTIONALITÄT“

Daran knüpft das Konzept der Intersektionalität an. Im Alltag kann es helfen zu verstehen, welche Probleme und Hürden und welche Diskriminierungsformen Menschen in ihrem Leben aufgrund zugeschriebener Kategorien erfahren. Kimberlé Crenshaw, die den Begriff in den 1980erJahren prägte, kritisierte damit die bis dahin eindimensionale Sicht auf Diskriminierung. Durch die Metapher der Straßenkreuzung (engl. „intersection“) wird beschrieben, wie verschiedene Ungleichheitskategorien, etwa sozioökonomischer Status, Behinderung oder Herkunft, zusammentreffen, sich überlagern und auf unterschiedliche, zum Teil strukturelle Ursachen zurückzuführen sind. Die Soziologin Natasha A. Kelly beschreibt Intersektionalität als „Lupe, die die unterschiedlichen Bedingungen einer Diskriminierung erkennbar macht“.4 Daher findet dieser Ansatz bei den staatlichen und kommunalen Antidiskriminierungsstellen sowie auf Ebene der EU Verwendung.

DER UMGANG MIT IDENTITÄT(EN) IN DER KINDER- UND JUGENDARBEIT

In der Kinder- und Jugendarbeit sind die Fragen rund um Identität und Identitätsentwicklung sowie die Erfahrung von Diskriminierung oder Ausschluss zentral. Kinder und Jugendliche setzen sich mit ihren Rollen, sozialen Zugehörigkeiten und der Herausbildung des eigenen Ichs auseinander. Bedeutend sind dabei vor allem solche Kategorien, auf die gesellschaftlich Bezug genommen wird, darunter Gender, Herkunft, sozioökonomischer Status oder Religion. Eine Aufgabe der Kinder- und Jugendarbeit besteht darin, die Heranwachsenden bei diesem Prozess zu begleiten. Wichtig ist dabei, sensibel mit Identität(en), Zuschreibungen, Unterschieden und Widersprüchlichkeiten umzugehen. Verschiedene, sich unter Umständen verändernde Perspektiven auch innerhalb einer Person sollen wahrgenommen, anerkannt und sichtbar gemacht werden. Dies setzt das ehrliche Interesse am Gegenüber und die Anerkennung individueller Erfahrungen voraus, besonders, wenn sie als diskriminierend erlebt wurden. Gleichzeitig gilt es, die Reduktion auf ein bestimmtes Identitätsmerkmal und die alleinige Wahrnehmung stellvertretend für eine bestimmte Gruppe zu vermeiden. Vielmehr muss die vielfältige und veränderbare Entwicklung einer selbstbewussten Identität unterstützt werden.

Was die eigene Arbeit und Haltung betrifft, geht es auch um die zum Teil unbequeme Auseinandersetzung mit eigenen internalisierten Ungleichheitsvorstellungen, zum Teil unbewussten Ausschluss- und Unsichtbarmachungsmechanismen sowie eindimensionalen Betrachtungsweisen. Genau darin liegt die Chance der Anerkennung individueller Lebenswelten von Kindern und Jugendlichen sowie der Ansatz einer solidarischen und partizipativen Gesellschaft. Dies umfasst die Vermeidung von Etikettierungen und den achtsamen Umgang mit Sprache und normativen Konzepten. Dabei muss die plurale Auseinandersetzung auf einer demokratischen und menschenrechtsorientierten Grundlage ermöglicht werden. Es gilt, keine moralische Erhabenheit für sich zu beanspruchen und sich und anderen Fehlertoleranz und Lernprozesse zuzugestehen. Vor dem Hintergrund zunehmender rechter Vereinnahmungsversuche erscheint es umso wichtiger, nicht nur darauf zu achten, wer etwas aus welcher sozialen Position heraus sagt und was gesagt wird, sondern wie dies geschieht und auf welcher Wertegrundlage das Gesagte beruht. •

Quellenangaben siehe Seite 29 im Heft

Die Autor:innen

Julia Eder ist Koordinatorin,
Norman Escario Mitarbeiter bei der Mobilen Beratung gegen Rechtsextremismus in Bayern.
info@lks-bayern.de

Karin Fleissner
Referentin Öffentlichkeitsarbeit für Projekte