Eine weiß-lila-türkise Prismenzeichnung mit dem türkisen Wort Diversität.

juna #3.18 Diversität

Alles so schön bunt hier? Diversität und Vielfalt in der Jugend(verbands)arbeit.

Diversität: ein weites Feld an Möglichkeiten, Hoffnungen und Herausforderungen. Alle reden darüber, viele leben sie und einige vermissen sie. Diversität ist keine Modeerscheinung, die sich einfach einführen lässt, nur weil es auf dem Papier gut aussieht. Diversität ist ein Prozess, der Denkweisen offenbart und Verhaltensweisen in Frage stellt. Eine Entwicklung, die Mut zu Offenheit und Transparenz einfordert, um möglichst vielen jungen Menschen Zugänge zu gesellschaftlichen Ressourcen und zu Teilhabe zu ermöglichen und Benachteiligungen auszugleichen. Ein facettenreiches Thema der Jugendarbeit, Vielfalt als Selbstverständlichkeit wahrzunehmen und sensibel für Diskriminierungen zu sein

Text: Ansgar Drücker

Diversität wird im Duden mit Vielseitigkeit, Vielfalt, Vielfältigkeit oder Breite erläutert und stammt vom Lateinischen „diversitas“ ab. Vielfalt steht laut Duden für eine „Fülle von verschiedenen Arten, Formen o. Ä., in denen etwas Bestimmtes vorhanden ist, vorkommt, sich manifestiert; große Mannigfaltigkeit“. Schon der Duden macht in einem Beispiel für die Verwendung des Wortes deutlich, dass Vielfalt auch fordernd sein kann: „... eine erstaunliche, bunte, verwirrende Vielfalt aufweisen“. Der Begriff Vielfalt ist jedoch meist positiv besetzt. Mögliche Gegenteile von Vielfalt sind Einheitlichkeit (Homogenität), Einfalt, Eintönigkeit oder Einfachheit.
Vor allem in der Wirtschaft wird der englische Begriff Diversity verwendet. Er steht ebenfalls für Vielfalt und Verschiedenheit. Häufig wird dort auch von Managing Diversity oder Diversity Management gesprochen: Die Vielfalt und Verschiedenheit der Mitarbeiter_innen, ihre Fähigkeiten und Sprachkenntnisse sollen anerkannt, bewusst gefördert und als Vorteil für das Unternehmen genutzt werden.

ALLES GANZ NORMAL - NORMAL IST ANDERS

Grenzt man die Begriffe Vielfalt und Diversität voneinander ab, beschreibt Vielfalt stärker das Nebeneinander oder die Gleichzeitigkeit verschiedener Differenzlinien wie Herkunft und Geschlecht. In einer vielfältigen Gesellschaft leben verschiedene Gruppen, Menschen haben verschiedene Identitäten und es gibt nicht die eine Normalität, die für alle gilt. Menschen unterscheiden sich in ihren Lebensstilen, Gewohnheiten, Interessen, Meinungen und Verhaltensweisen.
Der Begriff Diversität betont hingegen die gesellschaftlichen Folgen, die bestimmte Merkmale und tatsächliche oder vermeintliche Zugehörigkeiten für Menschen haben. Die verschiedenen Gruppen in einer Gesellschaft stehen nicht gleichberechtigt nebeneinander. Denn mit bestimmten Merkmalen und Zugehörigkeiten sind Privilegien und Diskriminierungen, Zugänge zu Ressourcen – wie z.B. Bildung oder Anerkennung – und Ausschlüsse davon sowie mehr oder weniger Macht verbunden. Der Begriff Diversität berücksichtigt also auch ausdrücklich gesellschaftliche Machtverhältnisse.
Auch mit einem positiven Begriff wie Vielfalt können aber Zuschreibungen verbunden sein, die Menschen auf ihre vermeintliche „Andersheit“ festlegen und möglicherweise von einer Normalität ausgehen, die nicht von vornherein als selbstverständlich vielfältig gedacht wird. Das wirft Fragen auf!

  • Wann beginnt Vielfalt?
  • Kann es eine nicht vielfältige Gesellschaft geben?
  • Wird das Sprechen über Vielfalt der gesellschaftlichen Realität gerecht?
  • Wem nützt die Diskussion über Vielfalt und auf wessen Kosten werden Debatten über Vielfalt geführt?
  • Wer wird markiert, wenn über Vielfalt gesprochen wird?
  • Welche Vielfältigkeit ist erwünscht und welche nicht?

In einer Gesellschaft, die sich von vornherein als vielfältig beschreibt, einen Blick für die Diversität von Menschen entwickelt hat und sich nicht von Schubladen leiten lässt – sie ließe sich als eine inklusive Gesellschaft bezeichnen –, verlieren Kategorien von „normal“ und „anders“ zunehmend ihre Bedeutung. An ihre Stelle treten der gleichberechtigte Dialog und Aushandlungsprozesse auf Augenhöhe. Sie haben das Ziel, allen den gleichen Zugang zu gesellschaftlichen Ressourcen zu ermöglichen und die Teilung der Gesellschaft in Macht und Nicht-Macht, Chancen und Nicht-Chancen zu überwinden.

NORMAL IST DAS NICHT

Es gibt Merkmale, denen wir in unserer Wahrnehmung in verschiedenen Situationen mehr Bedeutung zumessen als anderen. Welche Merkmale dies sind, haben wir von klein auf erlernt. Sie werden als Differenzlinien bezeichnet, weil sie Menschen in „normal“ und „abweichend“ unterteilen und mit Privilegien und Diskriminierung verbunden sind. Sie beeinflussen daher die Lebensmöglichkeiten und Freiheiten eines Menschen. Die wichtigsten Differenzlinien sind:

  • ethnische oder kulturelle Herkunft/ Staatsangehörigkeit
  • Religion/Weltanschauung
  • Geschlecht
  • sexuelle Orientierung
  • Geschlechtsidentität/Geschlechtszuordnung
  • Behinderungen/körperliche Einschränkungen/ (chronische) Erkrankungen
  • Alter
  • sozialer Status/Klasse

Aus diesen Differenzlinien ergeben sich auch die wichtigsten Formen von Diskriminierung und Ausgrenzungspraxen:

  • Homophobie: ablehnende Einstellung gegenüber der Homosexualität
  • Rassismus: Unterdrückung von und/oder ideologische Hetze gegenüber Angehörigen anderer Völker
  • Antisemitismus: Judenfeindlichkeit
  • Antimuslimischer Rassismus: Islamfeindlichkeit
  • Sexismus: Diskriminierung aufgrund der geschlechtlichen Unterschiede
  • Heterosexismus: Diskriminierung von Menschen nicht-heterosexueller Orientierung
  • Ableism: Diskriminierung von Menschen mit körperlicher Einschränkung
  • Ageism: Diskriminierung aufgrund des Lebensalters
  • Klassismus: Diskriminierung aufgrund des sozialen Status

Oft überschneiden sich die genannten Differenzlinien und die mit ihnen einhergehenden Privilegien und Diskriminierungen in Bezug auf einzelne Menschen – dann ist von Intersektionalität die Rede. Eine lesbische Architektin türkischer Herkunft kann beispielsweise von Rassismus, Sexismus und Heterosexismus betroffen sein. Sie kann sich auch unter Lesben oder unter Frauen als „Türkin“ ausgegrenzt fühlen oder unter Frauen oder Türkeistämmigen als Lesbe. Andererseits kann sie z.B. aufgrund ihres sozialen Status und ihres Alters auch Privilegien genießen und Diskriminierung ausüben.

ANDERS IST NORMAL

Eine Pädagogik der Vielfalt setzt auf die Anerkennung und Akzeptanz der unterschiedlichen Erfahrungen, Lebenswirklichkeiten und Ausprägungen menschlicher Vielfalt. Eine diversitätsbewusste Bildungsarbeit beschäftigt sich darüber hinaus mit Diskriminierungen und Privilegierungen, ihren gesellschaftlichen Ursachen und den Mechanismen, die sie aufrechterhalten. Beide schauen daher kritisch auf Ausgrenzungen und werben für Solidarität zwischen den Angehörigen marginalisierter Gruppen, aber auch zwischen Privilegierten und Marginalisierten.
Daher muss diversitätsbewusste Bildungsarbeit auch das Empowerment von Angehörigen minorisierter Gruppen zum Ziel haben. Gemeint sind damit Prozesse, in denen marginalisierte Menschen ihre Ressourcen mobilisieren und Handlungsmöglichkeiten entwickeln, um ihre politischen und gesellschaftlichen Rechte selbstbestimmt wahrzunehmen und Machtunterschiede abzubauen. Deshalb gehört das Powersharing vonseiten der Privilegierten unabdingbar dazu, d.h. das bewusste Teilen und Abgeben von Macht (z.B. von Definitionsmacht) und Ressourcen, damit Marginalisierte diese für ihr Empowerment nutzen können.
In der Jugendarbeit kann sich dies beispielsweise in der Unterstützung von Zusammenschlüssen junger Menschen mit Migrationshintergrund widerspiegeln, im selbstverständlichen Mitwirken junger Geflüchteter in Jugendgruppen und -verbänden, in speziellen Angeboten für queere Jugendliche oder in einem Selbstcheck der eigenen Arbeit in Bezug auf bewusste und unbewusste Ausschlüsse (von Gruppen) junger Menschen. Jugendverbände setzen sich dafür ein, dass alle jungen Menschen Zugänge zu gesellschaftlichen Ressourcen und Angeboten wie Arbeit, Bildung, Wohnraum und Freizeitgestaltung haben. Dazu kann eine diversitätsbewusste Bildungsarbeit wichtige Erkenntnisse und Erfahrungen verschiedener gesellschaftlicher Gruppen und von Einzelpersonen beisteuern. Diversität ist mehr als „alles so schön bunt hier“ – es geht um gleiche Rechte und gleiche Zugänge für alle jungen Menschen.

Der Autor

Ansgar Drücker ist Geschäftsführer des Informations- und Dokumentationszentrum für Antirassismusarbeit e.V. (IDA). IDA versteht sich als das Dienstleistungszentrum der Jugendverbände für die Themenfelder Rassismus(kritik), Rechtsextremismus, Migration und Inklusion, Flucht und Asyl sowie Diversität.

Karin Fleissner
Referentin Öffentlichkeitsarbeit für Projekte