23.03.2024

Ganztagsbildung in Bayern

Die BJR-Vollversammlung bringt sich mit dem Positionspapier in den kinder- und jugendpolitischen Diskurs zum Ganztag ein.

Für viele Kinder und Jugendliche in Bayern ist der „Ganztag“ Lebensrealität geworden. Die Betreuung, Förderung und Bildung in Ganztageseinrichtungen wie Mittagsbetreuungen, Horten, offenen, gebunden und kooperativen Ganztagsklassen usw. ist eine Folge gesamtgesellschaftlicher Entwicklungen, bei der einerseits die Betreuungsbedarfe der Eltern, andererseits sozialpolitische Zielsetzungen wie die Verbesserung von Teilhabe und Chancengerechtigkeit im Fokus stehen. Die Umsetzung des Gesetzes zur ganztägigen Förderung von Kindern im Grundschulalters (GaFöG), also die Einführung eines Rechtsanspruchs ab dem Schuljahr 2026/2027, bringt weitere Dynamik in den Ausbau des Ganztags in Bayern. Aus integrations- und sozialpolitischer Perspektive ist das zunehmende Angebot an Ganztag grundsätzlich zu begrüßen. Insbesondere für sozial benachteiligte Kinder sowie Kinder aus bildungsfernen Milieus oder mit besonderen Bedarfen sind Ganztagsangebote ein wichtiges Instrument zur Herstellung von Chancengerechtigkeit.

Die Bayerische Jugendarbeit engagiert sich bereits seit vielen Jahren als Partner im Ganztag. Zahlreiche Jugendringe sind Träger von Mittagsbetreuungen oder Ganztagsklassen, viele Jugendverbände bringen sich mit ihrer Expertise und ihren non-formalen Bildungsangeboten im Ganztag ein und auch zahlreiche Einrichtungen der Offenen Kinder- und Jugendarbeit spielen eine wichtige Rolle bei der Umsetzung des Ganztags vor Ort. Dabei ist es der bayerischen Jugendarbeit ein wichtiges Anliegen, dass der Ganztag aus der Perspektive der Kinder gestaltet wird, dass es verbindliche Qualitätsrahmen für alle Ganztagsformen gibt und die Rahmenbedingungen so gestaltet sind, dass einerseits ein Engagement im Ganztag für die Akteure der Jugendarbeit möglich bleibt, andererseits die Jugendarbeit selbst in ihrer Existenz nicht gefährdet wird.

1. Ganztag muss aus der Perspektive der Kinder gedacht und geplant werden

Bereits in der Gesetzesbegründung wird deutlich, dass die inhaltliche Ausgestaltung der Ganztagesangebote nicht allein die Betreuung der Kinder zum Ziel haben kann. Als wichtige gesellschaftspolitische Ziele sind an dieser Stelle benannt: „Die Förderung der Entwicklung und Erziehung von Kindern zu eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeiten, die Förderung der Teilhabe von Kindern, die Vereinbarkeit von Familie und Beruf sowie die gleichberechtigte Teilhabe von Frauen und Männern am Erwerbsleben.“ Der Ganztag muss daher zunächst aus der Perspektive der Kinder gedacht und nach deren Bedarfen gestaltet werden.

Der Ganztag muss Kindern genügend Freiräume zur selbstbestimmten Nutzung und Ausgestaltung bieten, damit sie u. a. Freundschaften schließen und pflegen können. Für Kinder ist Schule ein wichtiger sozialer Ort, an dem sie mit Gleichaltrigen zusammenkommen und Beziehungen aufbauen können. Schule dient auch als Ausgangspunkt für Aktivitäten, Kontakte und Engagement außerhalb der Schulzeiten. Ob sich Kinder wohlfühlen, ist aus ihrer Sicht deshalb stark davon abhängig, ob sie genügend Zeit und Raum für eigene Bedürfnisse und Interessen zur Verfügung haben. Selbstbestimmte, freie Zeiten und Räume, ergänzend zu Unterricht und Betreuung und während der Schulferien, die auch Kontakte zu Kindern außerhalb der eigenen Klassen- und Schulgemeinschaft ermöglichen, sind ein wesentlicher Raum für Kinder und stärken deren Resilienz.

Pädagogische Angebote unterstützen die Selbstbestimmung der Kinder, wecken und fördern deren Kreativität und bieten auch Gelegenheiten, zur Ruhe zu kommen. Hierzu braucht es zeitliche und räumliche Voraussetzungen sowie Fachkräfte, die einschätzen können, wann Begleitung und wann Anleitung angemessen sind. Ganztagsangebote müssen pädagogisch organisierte Freiräume und Freizeitangebote vorsehen. Dies bedeutet auch spielerische, musikalische, künstlerische und sportliche Angebote nicht nur in Innenräumen vorzuhalten, sondern auch den Außenbereich sowie andere außerschulische Orte und den Sozialraum mit einzubeziehen.

Durch den zunehmenden Ganztag werden die Sozialisationsorte von Kindern zunehmend institutionalisiert, obwohl viel dafür spricht, dass für die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen unstrukturierte und unverzweckte Räume wichtig sind.

2. Ganztag muss als Verantwortungsgemeinschaft im Sozialraum gestaltet werden

Der gesamtgesellschaftlichen Aufgabe für die zukunftsorientierte Bildung, Betreuung und Erziehung von Kindern müssen sich Schule und Jugendhilfe gemeinsam mit allen beteiligten Akteuren in einer Verantwortungsgemeinschaft stellen. Außerschulische Räume sind für den Ganztag zu nutzen, Eltern sind einzubinden und die Akteure der Jugendhilfe, insbesondere auch der Jugendarbeit, müssen bereits in den Planungen mit einbezogen werden. Hierzu braucht es geeignete und institutionalisierte Formen der Zusammenarbeit vor Ort sowie ausreichende Zeit- und Personalressourcen um Kooperationen auch planen und umsetzen zu können. Ziel muss es sein, durch eine koordinierende Stelle vor Ort, Angebote der Jugendarbeit, Träger und Schulen für ein stabiles Ganztagsbildungsnetzwerk zusammenzubringen.

3. Ganztag braucht einen klaren Qualitätsrahmen

Der Bundesgesetzgeber hat bislang darauf verzichtet, Qualitätskriterien für die ganztägige Bildung, Betreuung und Erziehung zu formulieren. Die Verankerung des GaFöG im SGB VIII hat jedoch zur Folge, dass die Grundprinzipien des SGB VIII (Schutz und Beteiligung von Kindern) zu beachten sind. Um gleichwertige Lebensverhältnisse in Deutschland sicher zu stellen, braucht es einen von den Kultus- und Jugendminister:innen der Länder verantworteten Qualitätsrahmen, der die Prozess- und Strukturqualität von Ganztagsangeboten in den Blick nimmt. Die darin definierten (Mindest-)Standards müssen sich im Wesentlichen an den Standards der Jugendhilfe orientieren und nicht an denen der Schule. Zur Sicherstellung der Umsetzung der Qualitätsstandards müssen entsprechende Ressourcen bereitgestellt und eine systematische Evaluation sichergestellt werden.

4. Ganztag muss Kinderrechte vollumfänglich umsetzen

Als Grundrechtsträger haben Kinder Beteiligungs-, Schutz- und Förderrechte, die konsequent umgesetzt werden müssen. Die Kinder müssen an der konkreten Ausgestaltung der Ganztagsentwicklung angemessen beteiligt werden und so die sie betreffenden Entscheidungen mitgestalten können. Ein Ganztagsangebot sollte so flexibel organisiert sein, dass alle Kinder gleichberechtigt daran teilhaben können und entsprechend ihrer individuellen Fähigkeiten, Fertigkeiten und Bedürfnisse gefördert und unterstützt werden. Bedarfsgerechte vielfältige Ganztagsangebote gehen auf das ein, was Kinder für ihre gleichberechtigte Teilhabe benötigen. Sie bieten Freiräume und alltagsintegrierte Mitbestimmung.

5. Ganztag muss im Sinne gleichberechtigter Teilhabe gestaltet werden

Ein flächendeckendes, bedarfsgerechtes Ganztagsangebot kann ein wichtiger Schritt sein, um die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse in der Bundesrepublik in diesem Bereich zu verbessern. Kinder leben heute in sehr unterschiedlichen sozialen Lebenslagen. Daraus ergeben sich sehr unterschiedliche Anforderungen an gleichberechtigte inklusive Bedingungen des Aufwachsens in (außer-)schulischen Angeboten. Kinder haben pädagogische Bedarfe, die partizipativ mit ihnen und ihren Eltern in außerunterrichtlichen und außerschulischen Angeboten erschlossen werden müssen. Hierfür braucht es pädagogisch sinnvolle und inklusive Räume und Ausstattung von Ganztagseinrichtungen sowie ein gesundes und kostenfreies Mittagessen für alle Kinder. Kooperationspartner müssen so unterstützt werden, dass sie Angebote ohne Zusatzkosten für die Eltern anbieten können.

6. Ganztag braucht (nicht nur) pädagogische Fachkräfte

Das im GaFöG verankerte Fachkräftegebot ist sinnvoll. Dennoch kann und soll Ganztag nicht nur von Fachkräften gestaltet werden. Angebote von außerschulischen Partner:innen müssen auch von qualifizierten Menschen im Ehrenamt oder Nebenberuf mitgestaltet werden können, für deren Akquise, Einarbeitung und Begleitung entsprechende Ressourcen eingeplant werden müssen. Damit aus Kindersicht stabile Beziehungen entstehen können, braucht es sowohl verlässliche Lehrkräfte als auch verlässliche außerschulische Fachkräfte und Expert:innen der Jugendhilfe/Jugendarbeit. Durch vielfältige Lebensrealitäten und unterschiedliche didaktische Herangehensweisen der Mitarbeiter:innen werden Kindern vielfältige und wertvolle Möglichkeiten zu Anknüpfung und Identifikation geboten. Um den Einsatz von Ehrenamtlichen auch im Kontext von Ganztagsangeboten zu ermöglichen braucht es einerseits Regelungen auf Landesebene, die dies grundsätzlich ermöglichen, andererseits eine entsprechende Änderung/Konkretisierung des Gesetzes zur Freistellung von Arbeitnehmern für Zwecke der Jugendarbeit sowie eine Erweiterung der Fördermöglichkeiten zur Erstattung von Verdienstausfall. Ehrenamtliches und hauptberufliches Engagement im Ganztag muss leistungsgerecht honoriert werden.

7. Ganztagsförderung ist nicht Ganztagsschule

Die Chance des Ganztags liegt im Zusammenspiel von formaler und non-formaler Bildung; die Verortung im SGB VIII ist ernst zu nehmen. Formales, non-formales und informelles Lernen werden als gleichwertig angesehen und bilden einen ganzheitlichen Bildungsansatz. Hierzu braucht es die Kooperation von Lehrkräften und Fachkräften der Jugendhilfe, die auf Augenhöhe agieren, ergänzt und begleitet von gemeinsamen Fortbildungsangeboten. Den Kindern müssen Räume und Freiräume zur Persönlichkeitsentwicklung und zur Identitätsbildung zur Verfügung gestellt werden. Auf individuelle Unterschiede und besondere benachteiligende Faktoren sollte ausgleichend eingegangen werden. Hier braucht es gute, zum Teil individuelle Förderkonzepte, um individuelle Bildungserfolge zu ermöglichen. Alle Kinder sollen gleichermaßen an Freizeit- und Bildungsangeboten inklusive Kultur-, Musik- Sportangeboten teilhaben können, die im Rahmen des Ganztags angeboten werden. Inklusive und erzieherische Hilfsangebote sollen dabei im Ganztag integriert angeboten werden.

8. Schulbezogene Jugendarbeit als Brückenfunktion stärken

Schulbezogene Jugendarbeit ist seit vielen Jahren ein fester und wachsender Bestandteil in der Kooperation von Jugendarbeit und Schule. Der schulische Ganztag bietet Anknüpfungspunkte für Akteure der Jugendarbeit. Schüler:innen machen durch die Angebote der Jugendarbeit wertvolle prägende Erfahrungen mit Methoden der Jugendarbeit. Diese bieten eine Persönlichkeitsentwicklung und einen Erfahrungsraum, wie es im schulischen Kontext nicht umzusetzen ist. Sie öffnen außerdem den Horizont für außerschulische Freizeitaktivitäten bis hin zu einem zivilgesellschaftlichen Engagement in Vereinen und Verbänden. Schulbezogene Jugendarbeit muss auf Augenhöhe mit Vertretern der Schulfamilie agieren können und bedarfsgerecht finanziell und personell ausgestattet sein.  

9. Die Ferien gehören der Jugendarbeit

In den Ferien müssen die Bildungs- und Freizeitangebote der Jugendarbeit die selbstverständliche Form der Ganztagsförderung sein. Im Zuge der Umsetzung des GaFöG dürfen Ferienangebote nicht zu schulischen Veranstaltungen werden. Der Charakter der Ferien als schulfreie Zeit und das Recht der Kinder auf Spiel, Spaß und Abenteuer müssen bei deren Gestaltung im Vordergrund stehen. Ferienangebote sind als außerschulische Angebote vielfältig, ausreichend und ggf. auch schulartübergreifend, also bedarfsgerecht zur Verfügung zu stellen bzw. auszubauen und in die Umsetzung der Ganztagskonzepte vor Ort zu integrieren. Hierfür brauchen Jugendverbände, Jugendringe, kommunale Jugendarbeit, Gemeindejugendarbeit und die Einrichtungen der offenen Kinder- und Jugendarbeit eine angemessene und bedarfsgerechte finanzielle Ausstattung.

10.   Ganztag braucht Rechtssicherheit

Alle am Ganztag beteiligten Akteure, wie Schule, Jugendhilfe und Jugendarbeit, hauptamtliche Fachkräfte, Honorarkräfte und Ehrenamtliche, die Sachaufwandsträger, Eltern usw. brauchen schnellstmöglich Verlässlichkeit und Rechtssicherheit. Insbesondere Fragestellungen wie die Nutzung außerschulischer Orte im Sozialraum (Betriebserlaubniserfordernis), die Beförderung von Kindern und Jugendlichen auch in den Ferienzeiten, Fragen von Verantwortung und Aufsichtspflicht beim Einsatz von Personen, die nicht Fachkräfte gemäß dem Bayerischen Kinderbildungs- und -betreuungsgesetz (BayKiBiG) sind sowie die konkreten Verantwortlichkeiten für die Koordinierung/Steuerung vor Ort müssen zeitnah und verbindlich beantwortet werden. Hierfür bietet sich die Schaffung einer gesetzlichen Grundlage im Gesetz zur Ausführung der Sozialgesetze (AGSG), ggf. mit einer Anpassung des Bayerischen Unterrichts- und Erziehungsgesetzes (BayEUG) unter Berücksichtigung der im SGB VIII für Jugendarbeit formulierten Grundsätze an.

11. Ganztag betrifft die Jugendarbeit in verschiedenen Dimensionen

Die Einführung eines Rechtsanspruchs ist eine Maßnahme, die Wirkung auf die Akteure der Jugendarbeit entfalten wird - unabhängig davon, ob sie sich als Kooperationspartner im Ganztag engagieren werden. Wenn mehr Kinder die Nachmittage in der Schule verbringen und auch die Ferien zunehmend betroffen sind, dann besteht die Gefahr, dass dies zu Lasten der klassischen Angebote der Jugendarbeit geht. Ganztagsangebote müssen daher so gestaltet werden, dass es für die Eltern flexible Buchungsmöglichkeiten gibt, damit die Kinder auch weiterhin die Möglichkeit haben, an Angeboten der Jugendarbeit wie z.B. Gruppenstunden, Sporttrainings, Orchester- und Chorproben, Angeboten der offenen Kinder- und Jugendarbeit oder Ferienfreizeiten teilzunehmen. Die Teilnahme daran muss im Rahmen der Anspruchserfüllung also ermöglicht und ebenso wie die Koordination dieser vielfältigen Angebote im Rahmen der Ganztagesbetreuung gefördert werden.

Weiterhin wird viel Geld für den Erhalt und den Ausbau von Ganztagsangeboten investiert werden müssen, was sich auf die Ausstattung von Jugendarbeit vor Ort auswirken kann. Die Finanzierung der Ganztagsbildung darf nicht auf Kosten der ohnehin oftmals unterfinanzierten Jugendarbeit passieren. Jugendarbeit mit ihren Strukturprinzipien der Mitbestimmung, Offenheit, Freiwilligkeit und Subjektorientierung muss als eigenständiger Bildungsbereich weiterhin anerkannt und auskömmlich finanziert werden, um sowohl ihre Kernaufgaben als auch die Aufgaben als Kooperationspartner in der Ganztagsförderung umsetzen zu können.

Patrick Wolf
er/ihm
Büroleiter und Queer-Beauftragter