Mehrere juna-Hefte liegen aufeinander. sie zeigen einen gezeichneten Baum, auf der eine Eule sitzt.

juna #3.22 Jugendarbeit und das Recht auf Ganztag

Was auf die Jugendarbeit zukommt – davon erzählen drei Praxisbeispiele in diesem Heft.

Ab 2026 besteht ein Rechtsanspruch auf Ganztagsförderung für Grundschüler:innen. Zunächst gilt er für die ersten Klassen, dann kommt Jahr für Jahr eine weitere Jahrgangsstufe hinzu. Das hat der Bundestag am Ende der letzten Legislaturperiode beschlossen. Die Details regeln die Länder, in Bayern steht das Ausführungsgesetz noch aus. Dr. Christian Lüders erläutert, was der Ganztag für Jugendhilfe und Jugendarbeit bedeuten wird –  und wie sie die Aufgabe gemeinsam mit den Schulen angehen sollten

Interview von Dominik Petzold

Herr Lüders, was beinhaltet das Bundesgesetz zum Ganztag?

Christian Lüders:

Grundschulkinder der ersten Klasse haben ab dem Schuljahr 2026/2027 einen Rechtsanspruch, an den Werktagen jeweils acht Stunden betreut zu werden; die Zeit jenseits des Unterrichts soll die Kinder- und Jugendhilfe abdecken. Wenn der Unterricht von 8.00 bis 12.30 Uhr dauert, muss sie von 12.30 bis 16.00 Uhr Angebote machen. Der Rechtsanspruch gilt auch in den Ferien – da muss die Kinder- und Jugendhilfe also von 8.00 bis 16.00 Uhr Angebote machen, sofern Nachfrage der Eltern besteht. Und die Nachfrage steigt erfahrungsgemäß mit dem Angebot. Zugleich regelt das Gesetz, dass es im Jahr während der Ferien bis zu vier Wochen kein Angebot geben kann.

Laut Gesetz müssen im Ganztag Fachkräfte eingesetzt werden. Was bedeutet das für die Jugendarbeit?

Ich kann mir vorstellen, dass Jugendfreizeitstätten, kommunale Jugendarbeit, gegebenenfalls auch große Jugendverbände Betreuung im Ganztag übernehmen, weil sie mit Hauptamtlichen arbeiten. Von Ehrenamtlichen getragene Jugendverbände werden das eher nicht leisten können, das wurde bei Modellversuchen sichtbar. Das führt zu einer Überforderung der Ehrenamtlichen. Allerdings muss auf Länderebene erst noch geregelt werden, was anspruchserfüllend ist: Können Ehrenamtliche Mittagessen und Hausaufgabenbetreuung übernehmen, sofern sie sich zusätzlich qualifizieren? Oder braucht es auch da ausgebildete Fachkräfte? Und wenn ja, mit welchen Kompetenzen? Offen ist auch die Frage nach dem Personalschlüssel: Wie viele Kinder werden pro Betreuungsperson zugelassen?

Werden im großen Stil Weiterqualifizierungen nötig werden, um genügend Beschäftigte zu finden?

Es wird neue Ausbildungswege geben. Aber man wird sicherlich auch darüber nachdenken müssen, durch Fortbildung neues Personal zu gewinnen oder Seiteneinsteiger zu qualifizieren. Wir haben in der Kinder- und Jugendhilfe jetzt schon Riesenprobleme damit, qualifiziertes Personal zu finden, und können Kindergärten nicht vollständig aufmachen, weil das Personal nicht vorhanden ist. Jetzt bauen wir ein neues Feld auf mit einem erheblichen zusätzlichen Bedarf an qualifiziertem Personal. Wo soll dieses herkommen?

95.900

zusätzliche Plätze, die in Bayern
bis 2026 geschaffen werden müssen*

 

Auch in der Jugendarbeit fehlen Fachkräfte. Steht zu befürchten, dass weitere in den Ganztag abwandern, weil sie da abends und am Wochenende frei haben?

Da sind noch viele Fragen offen. Wenn die Stellen ähnlich ausgestattet sind wie in der Jugendarbeit, kann ich mir eine Sogwirkung vorstellen. Es kann aber auch sein, dass Arbeits-bedingungen und Gehälter so wenig einladend sein werden, dass die Stellen nicht attraktiv sind. Und in der Jugendarbeit haben Hauptamtliche einen gewissen Freiraum. Ob eine Schule mit ihren Hierarchien ein attraktiverer Arbeitsplatz ist, ob sich Pädagog:innen eines Freizeitheims unter einer Schulleitung wohlfühlen – das muss man sehen. Da treffen schon zwei Kulturen aufeinander.

Ein Tortendiagramm zeigt eine Übersicht der Ganztagsangebote für Grundschulkinder.

Wie lassen sich diese im Ganztag zusammenbringen?

Nur indem etwas Drittes entsteht. Wenn die Jugendarbeit stur auf den eigenen Prinzipien beharrt, wird sie scheitern. Ein Beispiel: Freiwilligkeit ist ein zentrales Prinzip in der Kinder- und Jugendarbeit. Dass alles auf Freiwilligkeit basiert, wird in den Grundschulen nicht gelten, Punkt. Man wird also ausloten müssen, inwieweit man die eigenen fachlichen Standards jeweils realisieren kann.
Umgekehrt wird auch die Schule ihre Prinzipien nicht komplett durchsetzen können. Sie darf den Partner nicht als Dienstleister verstehen, alles muss auf Augenhöhe passieren. Es muss gelingen, etwas Gemeinsames zu schaffen, eine neue, hybride Struktur. Die Frage ist: Welche Aspekte werden wie stark gewichtet? Nehmen wir noch einmal das in der Kinder- und Jugendarbeit zentrale Prinzip der Freiwilligkeit: Kann man zumindest eine freiwillige Auswahl der Angebote innerhalb des Ganztags gewährleisten, mitsamt Wechselmöglichkeiten?
Auch beim Prinzip der Beteiligung wird es Grenzen geben – aber ich kann mir vorstellen, dass Kinder an der Ausgestaltung des Programms beteiligt werden können. Und können Angebote am Nachmittag so gestaltet werden, dass sie von Leistungsbewertung frei bleiben? Bei all diesen Fragen treffen erstmal unterschiedliche Arbeits-formen und fachliche Prinzipien aufeinander. Meine These lautet: In der Summe wird ein neues hybrides System entstehen, das nicht mehr Jugendarbeit ist, wie wir sie bisher kennen, sondern ein eigenes Feld, mit eigenen fachlichen Standards, leitenden Prinzipien, Professionalitäten und in neuen Räumen. Das wird als Prozess ablaufen. Vielleicht haben wir in zehn Jahren neben Familie, Schule, Peergroup und Jugendverband ein weiteres Sozialisationsfeld für Grundschulkinder: den Ganztag, mit seinen eigenen Logiken.

Für die klassische Jugendarbeit bleibt dann aber jenseits des Ganztags weniger Zeit.

Das hängt davon ab, wie flexibel die Verträge mit den Schulen gestaltet werden. Man kann sich eine strikte Variante vorstellen, bei der jedes Kind bis 16.00 Uhr bleiben muss, wenn die Eltern so lang gebucht haben. Dann bleibt weniger Zeit für die Jugendarbeit. Aber der Ganztag kann auch mit mehr Wahlfreiheit gestaltet werden. Ich bin überzeugt, daran haben die Eltern und die Kinder ein Interesse.

Kann der Ganztag dann auch eine Chance für die Jugendarbeit sein?

Ja, bestimmt. Manche Angebote von Jugendfreizeit- oder Bildungsstätten würden viele Kinder und Jugendliche ansonsten vermutlich niemals wahrnehmen. Und Sportvereine oder andere Träger können begeisterten Kindern im Ganztag signalisieren: Mehr davon gibt es drei Ecken weiter.

Wie können sich die Akteur:innen der Jugendarbeit vor Ort jetzt schon auf die Einführung des Ganztagsförderungsgesetzes (GaFöG) vorbereiten?

Sie sollten klären, welche Bedarfe vorliegen, sich orientieren, wer künftig als Partner:in infrage kommt, und prüfen, wie Kooperationen aussehen können. Wo man sich vorstellen kann, mit den örtlichen Grundschulen zusammenzuarbeiten, sollte man sich gegenseitig kennenlernen und Vertrauen aufbauen.

In einem Zwischenruf des Landesjugendhilfeausschusses dazu ist von einer „Verantwortungsgemeinschaft“ die Rede – wie kann diese konkret aussehen?

Der Ganztag ist eine gemeinsame Aufgabe von zwei Partner:innen, die aufgrund des Rechtsanspruchs einen neuen Sozialisationsraum auszugestalten haben und sich aufeinander einlassen müssen – zum Wohl der Kinder. Passenderweise wird die Entwicklung in Bayern gemeinsam und bislang erfreulich partnerschaftlich von Kultusministerium und Sozial-ministerium gestaltet. Diese Perspektive muss aufrechterhalten bleiben.

3.700

zusätzliche Vollzeitstellen, die in Bayern
bis 2026 geschaffen werden müssen*

 

Die Begründung für das Gesetz fußt einerseits auf dem Betreuungsbedarf der Eltern, andererseits auf der Verbesserung der Chancengerechtigkeit. Sehen Sie tatsächlich Veränderungen für die kommenden Generationen von Grundschüler:innen?

Wenn es qualifizierte Angebote gibt, kann der Ganztag eine Chance für Kinder sein, die von zuhause aus nicht mit dem Glück vielfältiger Möglichkeiten gesegnet sind. Sie können im Ganztag ein qualifiziertes Bildungs-, Förder- und Freizeitangebot bekommen und sich neue Erfahrungshorizonte erschließen. Ob damit soziale Un-gleichheit ausgeglichen werden kann, da bin ich zurückhaltend. Sozialen Ungleichheiten muss auch mit Sozialpolitik begegnet werden, nicht allein mit pädagogischen Angeboten. Aber man hätte neues Förderpotenzial. Ob das gelingt, da bin ich im Moment skeptisch. Die Frage lautet doch derzeit weniger, wie gut wir den Ganztag ausstatten – sondern es geht vielmehr darum, dass wir ihn überhaupt einigermaßen finanzieren. Wir werden darum kämpfen müssen, ein hochwertiges pädagogisches Bildungs- und Förderangebot bereitzustellen und nicht nur ein Betreuungsangebot.

Teuer wird es in jedem Fall für die Kommunen.

Deshalb darf man sie auch nicht allein lassen. Zugleich kann es nicht sein, dass plötzlich der kommunale Jugendpfleger, das Freizeitheim oder andere Angebote der Jugendarbeit als Sparpotenzial betrachtet werden, weil die Kinder ja alle im Ganztag sind. Das wäre fatal, daher werden wir da diskutieren und wie gesagt gegebenenfalls kämpfen müssen – und zwar auf politischer Ebene, aber in jedem einzelnen Landkreis, in jeder einzelnen Kommune.

* Im Vergleich zu 2019/20, bei konstantem Elternbedarf (bei steigendem Elternbedarf liegt die Zahl höher)

Quelle: Thomas Rauschenbach, Christiane Meiner-Teubner, Melanie Böwing-Schmalenbrock, Ninja Olszenka: Plätze. Personal. Finanzen. Bedarfsorientierte Vorausberechnungen für die Kindertages- und Grundschulbetreuung bis 2030.Teil 2: Ganztägige Angebote für Kinder im Grundschulalter. Dortmund 2021, S. 27 und S. 33.

Der Autor

Dr. Christian Lüders
ist Vorsitzender des Landesjugendhilfeausschusses in Bayern.
Von 1994 bis zu seiner Pensionierung im vergangenen Jahr leitete er die Abteilung „Jugend und Jugendhilfe“ des Deutschen Jugendinstituts.
2022 ehrte ihn der BJR mit der höchsten Auszeichnung der Jugendarbeit in Bayern, dem „Partner der Jugend“.

Karin Fleissner
Referentin Öffentlichkeitsarbeit für Projekte