Zwei Hände ertasten einen Text in Brailleschrift.

juna #3.20 Lebendige Inklusion

Offen für alle zu sein ist ein Grundsatz der Kinder- und Jugendarbeit. Aber Inklusion ist in der Praxis gar nicht so leicht zu erreichen.

Inklusive Jugendarbeit gestalten

Offen für alle zu sein ist ein Grundsatz der Kinder- und Jugendarbeit. Aber Inklusion ist in der Praxis gar nicht so leicht zu erreichen, zumal sie mit anderen Prinzipien kollidieren kann. Die Fortschritte sind zwar groß, doch um die Kinder- und Jugendarbeit weiter zu öfnen, müssen viele strukturelle Voraussetzungen erfüllt werden.

Text: Gunda Voigts 

Kinder- und Jugendarbeit begegnet der Vielfalt der Lebenslagen junger Menschen mit immer neuen Angeboten und Strukturen. Offenheit, niedrigschwellige Zugänge, Subjekt- und Interessensorientierung sind konstituierend für das Handlungsfeld. Trotzdem muss sie sich wiederkehrend der (politischen) Debatte stellen, ob sie tatsächlich offen für alle jungen Menschen sei. Dabei hat die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UN-BRK) in der verbandlichen, sportlichen, offenen wie kulturellen Kinder- und Jugendarbeit ihre Bedeutung schnell entfaltet. Mit bewährten Reaktionsweisen wird auf die Anforderung nach einer inklusiven Neuaufstellung reagiert: Die Akteure initiieren Projekte, verabschieden Positionierungen, verbreiten gelungene Aktivitäten, schaffen Raum für Austausch und Debatte in Gremien und auf Fachtagungen (Voigts 2017). Was mit „Inklusion praktisch und konzeptionell in den jeweiligen Feldern der Kinder- und Jugendarbeit ernsthaft gemeint sein soll“ (BMFSFJ 2017, S. 408), ist dagegen nicht so leicht zu fassen. Die ernsthafte Suche nach einer „Kinder- und Jugendarbeit auf dem Weg zu inklusiven Gestaltungsprinzipien“ (Voigts 2014) kann nicht mit einer (durchgängigen) inklusiven Praxis gleichgesetzt werden. Sie erscheint eher als eine Selbstvergewisserung der eigenen Programmatik wie der vielzähligen Versuche, eine „neue Offenheit“ insbesondere für junge Menschen mit zugeschriebenen Behinderungen zu erreichen.

Die Umsetzung des „Auftrags Inklusion“ ist in der Kinder- und Jugendarbeit von zwei Aspekten gerahmt: Erstens ist Inklusion in ihrer umfassenden men-schenrechtlichen Perspektive ein Fundament des Arbeitsfeldes. Die Organisation und Stärkung von Teilhabe und Partizipation junger Menschen in der Gesellschaft ist eines ihrer wichtigsten Prinzipien. Kontinuierlich bemühen sich viele ihrer Akteure um Öffnungen für vermeintlich neue Zielgruppen: Kinder und Jugendliche aus Armutslagen, junge Menschen mit Migrationshintergrund, geflüchtete Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene. Auch die an einigen Orten intensiven Bemühungen, ein selbstverständlicher Ort für junge Menschen mit Behinderungen zu werden, sind dazuzuzählen. Insofern ist Kinder- und Jugendarbeit daran orientiert, „inklusiv“ und damit „offen für alle“ zu sein.

Zweitens – aber – ist es kein Geheimnis, dass nicht einmal die Offene Kinder- und Jugendarbeit so offen ist, wie es ihr Name vermuten lässt. Kinder- und Jugendarbeit steht in einem Dilemma. Sie ist bewusst subjekt- und interessenorientiert angelegt, was konzeptionell gewollt zu einer starken Gestaltung über Peer-Bezüge führt. Die Mehrzahl der jungen Menschen kommt über Freundinnen und Freunde an die Orte der Kinder- und Jugendarbeit. Wird der Peer-Bezug in der und durch die offene Gestaltung von Angeboten ernst genommen und im Sinne der Kinder und Jugendlichen weiterhin gestützt, liegt darin eine Grenze der eigenen Offenheit. Kinder und Jugendliche bestimmen dann selbst, mit wem sie die Angebote nutzen und gestalten – und mit wem nicht. Der konzeptionellen Offenheit werden Grenzen durch die zentral Beteiligten gesetzt, indem jungen Menschen (wie in der „Erwachsenenwelt“ selbstverständlich) die Entscheidung zugebilligt wird, mit wem sie gemeinsam welche Teile ihrer Freizeit verbringen wollen. Das wiederum kreiert sich in unserer Gesellschaft durch Rahmungen, auf die Kinder- und Jugendarbeit wenig Einfluss hat, z. B. das separierende Schulsystem, die sehr unterschiedlichen Wohnlagen oder Lebensmilieus.

ZUGANGSBARRIEREN ÜBERWINDEN

Einer der wenigen Wege, Peerbezüge, Subjekt- und Interessenorientierung ernst zu nehmen und gleichzeitig beständig nach einer neuen Offenheit zu suchen, ist die wiederkehrende Auseinandersetzung mit Zugangsbarrieren. In ihrer Analyse und Behebung liegt der Schlüssel zu inklusiven Settings, wenngleich auch dieser einem grundsätzlichen, in der allgemeinen Inklusionsdebatte angelegten Dilemma unterliegt. Inklusion will keine Kategorisierung von Menschen in vermeintliche Gruppen, also z. B. wie oben genannt in junge Menschen „mit“ oder „ohne“ Armuts- oder Fluchterfahrungen, Behinderungen oder Migrationshintergrund. Sie will Orte, an denen einfach alle willkommen sind. Der Weg dahin aber führt über die Auseinandersetzung und Beseitigung von Barrieren für spezifische, dann häu-fig auch mit Zuschreibungen versehene Gruppen.

In diesen aufgezeigten Gegensätzen Kinder- und Jugendarbeit auf den Weg zu inklusiven Gestaltungsprinzipien zu stärken ist nicht einfach – und trotzdem und gerade sind von der kulturellen Jugendarbeit über den Sport und die Jugendverbände bis zu den Offenen Einrichtungen viele Bemühungen und Erfol-ge zu erkennen. Kinder- und Jugendarbeit beschäftigt sich bundesweit in den letzten Jahren noch intensiver als zuvor mit ihren inklusiven Möglichkeiten. Die Aktivitäten lassen sich in sieben Bereiche kategorisieren, die im Handlungsfeld als typisch für die Beschäftigung mit aktuellen Herausforderungen bezeichnet werden können. Dieses sind Projekte, Positionierungen, Sammlung und Veröffentlichung gelungener Aktivitäten, Wettbewerbe, Fachaustausch und Debatte sowie (Praxis-)Forschungsprojekte. Die Aufzählung zeigt in abstrakter Weise, dass Kinder- und Jugendarbeit den Auftrag Inklusion ernst nimmt und sich von ihrem Weg nicht abbringen lässt. Die Unterlegung mit zahlreichen Beispielen wird in diesem Heft geboten.

STRUKTURELLE VORAUSSETZUNGEN

Dem Engagement in der Praxis vor Ort wie in den übergeordneten Zusammenschlüssen stehen herausfordernde Rahmenbedingungen entgegen. So lassen sich aus der Praxisforschung strukturelle Voraussetzungen analysieren, die aus Sicht von Trägern und Hauptberuflichen eingehalten werden müssen (Voigts 2018). Diese sind (1) neue Formen der internen und externen Vernetzung, (2) ausreichend Personalressourcen und finanzielle Planungssicherheit, (3) fachliche Unterstützung von Diensten der Behindertenhilfe, (4) Ideen für den Zugang zu und den Umgang mit Eltern von Kindern mit Beeinträchtigungen, (5) Möglichkeiten der Weitergabe und Verstetigung von neuen Erfahrungen und neuem Wissen, (6) barrierefreie Angebotsorte, (7) Unterstützung aus Politik und öffentlicher Verwaltung,(8) eine geregelte, strukturelle Finanzierung von Assistenzen für beteiligte junge Menschen mit Beeinträchtigungen in der Kinder- und Jugendarbeit und (9) die Qualifizierung der hauptberuflichen, ehrenamtlichen wie nebenberuflichen Mitarbeitenden.

In der viel beachteten Standortbestimmung „Auftrag Inklusion – Perspekti-ven für eine neue Offenheit in der Kinder- und Jugendarbeit“ ist dies in einem Satz auf den Punkt gebracht: „Den inklusiven Prozess in der Kinder- und Jugendarbeit zu managen, erfordert personelle und auch finanzielle Ressourcen. Ihn zu gestalten, geht nicht immer nur ,neben-bei‘. Und trotzdem: Inklusive Prinzipien zu ermöglichen, gehört zum ,Kerngeschäft‘ von Akteuren und Akteurinnen in der Kinder- und Jugendarbeit“ (aej/Akti-on Mensch/Diakonie Deutschland 2015).

INKLUSIVE GESTALTUNGS-KRITERIEN FEST VERANKERN

Das Resümee lautet: Inklusive Gestaltungskriterien in der Kinder- und Jugendarbeit durchgängig und dauerhaft zu verankern ist noch lange nicht erreicht. Und doch gilt, dass mit viel Engagement an vielen Orten viel vorangebracht wurde und wird. „Kinder- und Jugendarbeit hat Potentiale für den Weg zur Inklusion: Sie ist lebenswelt- und ressourcenorientiert, sie stellt Kinder und Jugendliche in den Mittelpunkt, sie hat Erfahrungen mit neuen Öffnungsprozessen, sie verfügt über ein weitreichendes Netz von Engagierten und Räumlichkeiten“ (ebd.). Kinder- und Jugendarbeit braucht (Spiel-)Räume: organisatorisch, personell, finanziell und konzeptionell. Nur dann können Mitarbeitende, die Inklusion im Sinne der menschenrechtlichen Veranke-rung als individuelle wie teamorientierte Haltungsfrage anerkennen, Kinder- und Jugendarbeit als durchgängig „offen“ für alle Kinder und Jugendlichen sinnvoll gestalten. Die Verantwortung für die Rahmenbedingungen, die das ermöglichen, liegen vor allem in der Hand der politisch Verantwortlichen.

Die Autorin

Prof. Dr. Gunda Voigts ist Progessorin für Grundlagen der Wissenschaft nd Theorien Sozialer Arbeit sowie Theorie und Praxis der (offenen) Kinder- und Jugendarbeit an der HAW Hamburg. 

Karin Fleissner
Referentin Öffentlichkeitsarbeit für Projekte