Wenn nicht jetzt, wann dann? Bildung für nachhaltige Entwicklung sollte die Basis aller pädagogischen Angebote sein.
Die Menschheit muss umdenken, das war nie so klar wie in der heutigen Zeit. Noch mehr als zuvor gilt: Bildung für nachhaltige Entwicklung sollte die Basis aller pädagogischen Angebote sein. Was bedeutet das für die Kinder- und Jugendarbeit?
Text: Steffi Kreuzinger und Asya Unger
Angesichts ökologischer und sozialer Herausforderungen braucht die Weltgemeinschaft nichts weniger als eine große Transformation. Es gilt, die planetaren Grenzen als Raum für menschliches Wirtschaften zu akzeptieren und weltweit solidarisch soziale Gerechtigkeit zu leben. Angesichts großer Krisen – hiervon scheint die Herausforderung des Coronavirus eine Idee zu geben – wird deutlich, dass es jetzt auf jede_n Einzelne_n anankommt, aber vor allem darauf, dass jede_r Einzelne an die anderen denkt. Es geht um uns Menschen und um die Frage, ob wir unser Verhalten ändern werden. Die aktuelle Situation – so groß die Herausforderungen auch sein mögen und so dramatisch die Folgen – bietet hier vielleicht auch eine Chance, um innezuhalten und manche nicht nachhaltige Wirtschaftsformen und Lebensweisen neu zu denken, anstatt wieder in alte Muster zu verfallen.
Die 17 globalen Nachhaltigkeitsziele der Agenda 2030 (Sustainable Development Goals), die die Vereinten Nationen 2015 verabschiedet haben, bieten eine Orientierung für Verantwortliche in Politik und Wirtschaft und für das Leben jeder_s Einzelnen. Sie sehen „hochwertige Bildung für alle Menschen“ (SDG Nr. 4) als wichtiges Schlüsselelement für eine sozial-ökologische Transformation hin zu mehr Gerechtigkeit, Solidarität und Nachhaltigkeit. Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE) hat zum Ziel, Menschen zu motivieren und zu befähigen, Gestalter_innen von Gesellschaft, Politik und Wirtschaft im Sinne einer nachhaltigen Entwicklung zu sein. BNE gibt Impulse und eröffnet Räume sowie Beteiligungsmöglichkeiten, um gewohnte Denkmuster zu hinterfragen und Ideen von Postwachstum und solidarischen Lebensweisen kennenzulernen, zu erleben und zu erproben. Bildung für nachhaltige Entwicklung ist kein „on top“, kein schöner Zusatz oder Anlass für einzelne Projekte, sondern ein integrierender und werteorientierter Ansatz, an dem sich jegliche Bildungsarbeit mit jungen Menschen ausrichten sollte. Welche Aspekte berührt BNE, welche Bausteine machen eine transformative Bildung aus und wie können sie in der Kinder- und Jugendarbeit und der Jugendverbandsarbeit umgesetzt werden?
BNE braucht Zeit – für Begegnungen, für die Diskussion relevanter Inhalte und ehrliche Auseinandersetzungen. Diese gilt es im pädagogischen Alltag zu schaffen. Die Kinder- und Jugendarbeit und die Jugendverbandsarbeit mit ihren partizipativen Strukturen bieten vielfältige Chancen, dass sich junge Menschen mit Nachhaltigkeits- und Zukunftsfragen auseinandersetzen. Freiwilligkeit, Partizipation und Werteorientierung sind wichtige Prinzipien der pädagogischen Angebote. Die Methode der philosophischen Gesprächsführung bietet einen Zugang, sich über Fragen von Zukunftsfähigkeit Gedanken zu machen, etwa „Führen wir das Leben, das wir eigentlich leben wollen?“, „Was brauche ich für ein gutes Leben?“ oder „Was bedeutet globale Gerechtigkeit für meinen Alltag?“. Hier können sich Kinder und Jugendliche ihrer Kompetenzen bewusst werden, die es braucht, um Zukunft gemeinsam zu gestalten. Zu diesen Kompetenzen gehören Empathie, Kooperation, Motivation, vorausschauendes Denken und Handeln.
Die Orientierung an Nachhaltigkeit setzt einen Perspektivenwechsel voraus. Es gilt, ökologische, soziale, kulturelle und ökonomische Aspekte als Ausgangspunkt für Themen und Projekte zu betrachten. Ausgangspunkt für die Beschäftigung mit dem Thema „Luft“ könnten folgende Fragen sein: Wie wichtig ist saubere Luft für unsere Gesundheit? Welchen Einfluss hat die Lobby der Autoindustrie auf die Gestaltung nachhaltiger Mobilität? Ein Ausgangspunkt könnte auch dieser Satz sein: „Da bleibt mir ja die Luft weg!“ Beim KJR München-Stadt war „Luft“ das Jahresthema 2019: Viele Einrichtungen haben das Thema aufgegriffen, Experimente angeboten und kreative Herangehensweisen erprobt wie zum Beispiel Luftorchester mit Upcycling-Musikinstrumenten. Sie nahmen Feinstaubmessungen vor, stellten ihre Ergebnisse in einem Blog dar oder initiierten kleine Protestaktionen vor ihrer Freizeitstätte. Globale Ansätze lokal aufzugreifen, erfordert einen ganzheitlichen Ansatz und die Orientierung der gesamten Einrichtung oder Organisation an sozialen und ökologischen Standards. Wie kann Nachhaltigkeit in der Kinder- und Jugendeinrichtung, der Jugendfreizeit oder einer Veranstaltung umgesetzt und gelebt werden? Es geht zum Beispiel um Ressourcenschutz, nachhaltige Ernährung oder umweltfreundliche Mobilität, wie die Programme „Fifty-Fifty“ (Stadt München) und „Natürlich²-Zertifizierung“ (KJR München-Stadt) exemplarisch zeigen. Hier orientieren sich die Einrichtungen bei ihrem Energieverbrauch und ihrem Umgang mit Lebensmitteln an Kriterien der Nachhaltigkeit, und Jugendliche erleben, wie nachhaltige Lebensstile selbstverständlicher Teil ihres Alltags werden können. Auch das Online-Angebot der JDAV Bayern zeigt exemplarisch, wie Nachhaltigkeitsaspekte ganzheitlich für den eigenen Wirkungsbereich berücksichtigt werden können.
Wie kommt das Neue in die Welt? Wir brauchen Freiräume für Kreativität, Gestalten und Spielen, um neue Geschichten von Nachhaltigkeit und Gerechtigkeit zu erfinden und zu erzählen. Unsere Beziehung zu der uns umgebenden lebendigen Natur kann uns Kraft und Mut geben, unbekannte Wege zu gehen und Neues zu wagen. Abenteuerspielplätze oder die Gestaltung der Außenflächen von Einrichtungen können Kindern und Jugendlichen die Erfahrung ermöglichen, selbst wirksam zu sein. Gefragt sind hier Kinder- und Jugendfreizeiten in und mit der Natur, erlebnispädagogische Ansätze und deren Verknüpfung mit Nachhaltigkeitsdiskursen.
Bildung für nachhaltige Entwicklung hat neben Umwelt- und Klimaschutz immer auch soziale Gerechtigkeit im Blick. Nach dem Motto „Genug für alle für immer“ gilt es, Beispiele für globale Bezüge zu finden und in Alltagshandeln vor Ort umzusetzen. Wie können wir eine solidarische Haltung üben? Wollen wir uns Fairtrade- Produkte in unserer Einrichtung leisten? Wer kennt „Orte des Wandels“, die alternative nachhaltige Lebensstile heute schon ermöglichen? Eine konsumkritische Stadtführung in München lässt die Teilnehmer zum Beispiel hinter die Kulissen der Kleidungs- und Lebensmittelindustrie blicken und alternative Einkaufsmöglichkeiten entdecken. In einer daran anschließenden Kleidertauschparty erproben Jugendliche ihre Kompetenzen für solidarisches und suffizientes Handeln.Empowerment und Partizipation am gesellschaftlichen Wandel BNE im Sinne einer transformativen Bildung zielt ebenso auf die Stärkung der Persönlichkeit wie auf die Veränderung gesellschaftspolitischer Strukturen. Kinder und Jugendliche lernen demokratische Formen der Mitbestimmung und Entscheidungsfindung kennen und nutzen sie, um den gesellschaftlichen Wandel mitzugestalten. Kinder haben bereits in vielen Einrichtungen die Möglichkeit, ihre Wünsche und Vorstellungen einzubringen. Darüber hinaus gilt es, Strukturen der Kinder- und Jugendbeteiligung wahrzunehmen und für Themen der Nachhaltigkeit zu nutzen. In München gibt es beispielsweise das Kinder- und Jugendforum; hier können 9- bis 14-Jährige ihre Ideen für ein zukunftsfähiges München regelmäßig einbringen. Und viele Gremien der Jugendverbandsarbeit stärken die Mitbestimmungskompetenzen junger Menschen. Nicht zuletzt werden die jungen Menschen selbst aktiv, organisieren sich und andere und setzen sich für ihre Zukunft ein. Bildung für nachhaltige Entwicklung hat viele Facetten. Viele Kinder- und Jugendeinrichtungen und Verbände greifen diese Aspekte bereits auf und setzen sie um. Entscheidend ist die Haltung, dass alle einen Beitrag leisten können. Und es gilt, die angesprochenen Ansätze miteinander zu verknüpfen und Nachhaltigkeit sowie soziale Gerechtigkeit in Gesprächen, bei Sitzungen und im Alltag mit den Kindern und Jugendlichen immer wieder zu thematisieren.
Steffi Kreuzinger ist die pädagogische Leiterin von Ökoprojekt MobilSpiel e.V.
Asya Unger ist Beauftragte für Nachhaltigkeit beim Kreisjugendring München-Stadt.