Zwei Ausgaben der Zeitschrift juna 4.23 Kultur liegen übereinander. Auf dem Cover ein buntes Wolpertinger-Tier.

juna #4.23 Kultur

Von Kulturbeutel bis Leitkultur: Vorstellungen von Kultur sind divers und immer auch relevant für pädagogische Kontexte in der Jugendarbeit.

Wir sind alle multikulti

Zum Auftakt dieses Fokusteils über „Kultur“ müssen wir erst mal klären:
Was ist mit dem Begriff überhaupt gemeint? Unsere Autorin erklärt das praxisnah und macht deutlich:
Wir alle sind von vielen verschiedenen kulturellen Kontexten geprägt – jeder und jede auf eigene Weise

Text von Caroline Mulert
Illustration von Gisela Knobel

Das Bild von einem giraffen-ähnlichen Wolpertinger.

Kultur – das sind Museen, Theater und Konzerte? Wir alle haben bestimmte Assoziationen im Kopf, wenn wir das Wort „Kultur“ hören. Von Kulturbeutel bis Leitkultur ist die Palette sehr breit, was Menschen in der Alltagssprache unter dem Begriff verstehen. In der Wissenschaft bezeichnet Kultur deutlich mehr als nur künstlerische Erzeugnisse. Grob gesagt steht Kultur immer im Gegensatz zu Natur und bezeichnet etwas, das eine Gruppe von Menschen gemeinsam hat. Immer wieder wird in Politik und Gesellschaft von „Nationalkulturen“ gesprochen (siehe auch Seite 5). Interkulturelle Trainings bereiten Mitarbeitende internationaler Firmen auf „die Kultur“ ihrer Partnerländer vor, Integrationskurse sollen Neuzugewanderte für „die deutsche Kultur“ fit machen. Das vermittelt schnell den Eindruck, Kultur sei etwas Unveränderbares, das alle Angehörigen einer Nation einheitlich prägt und steuert. Allein, weil man deutsch ist, soll man dann gar nicht anders können, als sich auf eine bestimmte Art und Weise zu verhalten. Der Sozialpädagogik-Professor Rudolf Leiprecht vergleicht das mit dem Bild der Marionette, die an den Fäden ihrer Kultur hängt und von dieser fremdgesteuert wird.

Im ständigen Wandel

So einfach ist es jedoch nicht: Im sozialund erziehungswissenschaftlichen Sinn ist Kultur ein System von Bedeutungsmustern und Zeichen, das der Orientierung dient und das Zusammenleben verstehbar macht. Das können Normen und ungeschriebene Regeln sein, die in einer Gruppe ganz selbstverständlich und unbewusst befolgt werden, aber auch ein bestimmter Kleidungs- oder Sprachstil, der eine Gruppe von anderen abgrenzt. Wer im Gangsta-Rap-Slang mit seiner Clique spricht, fällt dort nicht auf – tut er das an seinem Ausbildungsplatz in einer Bank, erhält er sicher schräge Blicke. Auch Bräuche, Traditionen und Rituale fallen unter den Oberbegriff Kultur. Kultur wird erlernt und kann dann das Verhalten von Menschen beeinflussen, umgekehrt beeinflussen aber auch Menschen die Kultur und entwickeln sie dynamisch weiter. In welchem Jugendverband geht es heute schon genauso zu wie vor 50 Jahren?

Täglich in verschiedenen Kulturkreisen

Bei diesem Beispiel wird auch klar: Kultur bezieht sich nicht nur auf Staaten und Nationen, sondern auf viele weitere Gruppen. Das können zum Beispiel Verbände sein, aber auch Unternehmen, Altersgruppen (z.B. Generation Y, Babyboomer), Religionsgemeinschaften oder Mitglieder einer Partei. Wir alle bewegen uns also ständig in unterschiedlichen Kulturkreisen – auch wenn wir unser Land noch nie verlassen haben. Vielleicht kommt es dann vor, dass eine junge Klimaaktivistin aus München sehr viel mehr mit einer jungen Klimaaktivistin aus Istanbul gemeinsam hat als mit einem LKW-Fahrer aus Cham, obwohl beide Deutsche sind.

Das Bild von einem känguruh-ähnlichen Wolpertinger.

Bayerische Kultur ohne Bier und Lederhose

Was ist dann gemeint, wenn von der „bayerischen Kultur“ gesprochen wird? Vielleicht kommen einigen da Dirndl und Lederhosen, Biergärten, Katholizismus und Grantler:innen in den Kopf – aber gehöre ich deshalb automatisch nicht dazu, wenn ich kein Bier mag? Was die bayerische Kultur ausmacht, ist im ständigen Wandel und wird geprägt durch die Menschen, die hier leben und hinzuziehen. Bereits jetzt hat jede:r fünfte Bewohner:in in Bayern einen Migrationshintergrund, bis 2024 wird das vermutlich sogar für jede vierte Person gelten. All diese Menschen bringen unterschiedliche kulturelle Prägungen mit. Was das für das Zusammenleben bedeutet, welche kulturellen Bedeutungsmuster und Lebensweisen in einer Gesellschaft oder Gruppe als „normal“ gelten, ist ein ständiger Aushandlungsprozess. Dieser Prozess ist verbunden mit Machtstrukturen und vielleicht auch mit der Angst vor Bedeutungsverlust, und das kann immer wieder zu Konflikten führen. Jahrzehntelang gehörte das Weißwurstfrühstück zum Feuerwehrfest dazu und plötzlich gibt es da Vegetarier:innen und Muslim:innen, die Alternativen fordern? Daran müssen sich viele erst gewöhnen.

Kultur ist also unser ständiger Begleiter. Für einen guten Umgang miteinander hilft es zu verstehen, wie eine Person zu ihrem jeweiligen kulturellen Kontext steht, ohne sie und ihr Verhalten auf kulturelle Zugehörigkeiten zu reduzieren. Interkulturelle Kompetenz in diesem Sinne bedeutet, sich der Bedeutung unterschiedlicher Prägungen (jenseits von Nationalkulturen) sowohl für sich selbst als auch für sein Gegenüber bewusst zu sein, aber vor allem auch den Menschen vor sich in seiner Individualität zu sehen und ernst zu nehmen.

Die Autorin

Caroline Mulert
koordinierte bis Ende 2023 beim BJR das Aktionsprogramm
„ju&mi – Jugendarbeit in der Migrationsgesellschaft“

mulert.caroline@bjr.de

Ansprechperson