Interview mit Natalia Shevchuk, Vorsitzende des Ukrainischen Jugendrings (NYCU).
Natalia Shevchuk absolviert im Sommer 2022 mit Unterstützung des deutsch-polnischen Jugendwerks ein Praktikum in Deutschland, um die Arbeit von Jugendorganisationen in Deutschland und Europa kennenzulernen. Die 26-jährige Philologin wurde im Dezember 2021 zur Vorsitzenden des Ukrainischen Jugendrings (NYCU) gewählt, davor war sie dessen Generalsekretärin.
Natalia, wie sieht der Kriegsalltag junger Menschen in der Ukraine aus?
Je nach Wohnort sehr unterschiedlich. In meiner Heimatstadt Ivano-Frankivsk im Westen der Ukraine ist es relativ sicher, obwohl auch dort Flughäfen und Armee-Standorte angegriffen werden. Was man für alle jüngeren Menschen sagen kann, ist, dass man morgens aufsteht und sich sofort über Social Media informiert: Wie war die Nacht in den Städten, in denen man Freunde und Familie hat? Wo hat es schwere Angriffe gegeben? Man erfährt von neuen Opfern, von den Toten. Öffentlich bekannte Namen oder Namen von Menschen, die man privat kennt und über die Neuigkeiten geteilt werden.
Die sozialen Netzwerke spielen eine Schlüsselrolle?
Ja, aber nicht nur, wenn es um schlimme Nachrichten geht. Wir sind stolz auf unseren Widerstand, auf die ukrainische Armee. Wir unterstützen sie mit Aktionen im Netz, um Equipment zu kaufen. Man erfährt zum Beispiel durch einen Post, dass bei einem Angriff Armeefahrzeuge zerstört worden sind. Also wird Geld gesammelt, um einen neuen Jeep zu kaufen. Eine Person, deren Identität offen ist und die in der betreffenden Einheit dient, bürgt sozusagen für die Information und für die korrekte Verwendung der Spenden. Geteilt wird das zunächst von Usern, die die Person kennen und dem Aufruf folgen. Bezahlt wird per Online-Banking oder über PayPal. Vor der Invasion der russischen Armee am 24. Februar gab es PayPal in der Ukraine nicht, es wurde quasi über Nacht eingeführt.
Ihr macht Crowdfunding, um die Armee mit Waffen auszustatten?
Crowdfunding im Sinne von Mikro-Projekten würde ich das nicht nennen. Es sind ziemlich große Anschaffungen, die so finanziert werden. Unter den Schlagwörtern ‚Bayraktar for Ukraine` und ‚People’s Bayraktar‘ wurde zum Beispiel für eine Kampfdrohne gesammelt, die in der Türkei produziert wird. Das Fundraising war sehr erfolgreich, nicht nur in der Ukraine, sondern auch in Litauen und in Polen kam Einiges zusammen. Der Aufruf war zunächst für eine Drohne, am Ende konnten sogar drei gekauft werden bzw. hat die Türkei sie gespendet. Allein in Polen wurden auf diese Weise über 22 Mio. Zloty gesammelt, was mehr als vier Millionen Euro entspricht.
Was ist mit Schule, Ausbildung und Studium? Findet noch regulärer Unterricht statt?
Im Westen im Großen und Ganzen ja. Im Zentrum und Osten der Ukraine ist es vielerorts zu gefährlich, Kinder in die Schule zu schicken oder Präsenz-Veranstaltungen an der Uni abzuhalten, weil die russische Armee auch solche Einrichtungen angreift. Ein volles Klassenzimmer wäre ein lebendes Ziel für sie. Es gab im vergangenen Schuljahr Online-Unterricht, aber das funktionierte natürlich nicht durchgängig. Außerdem sind viele Kinder und Jugendliche nicht an ihrem Heimatort, sondern als Binnenflüchtlinge irgendwo. So viele sind ins Ausland gegangen. Wir müssen aufpassen, dass keine verlorene Generation heranwächst. Die Diskussion, ob das kommende Schuljahr von vornherein nur mit Digitalunterricht -remote- stattfinden soll, dauert noch an.
Seit dem Angriff auf die Ukraine dürfen junge Männer das Land nicht verlassen, weil sie der Armee zur Verfügung stehen müssen. Wird das widerspruchslos hingenommen?
Im Prinzip dürfen junge Männer das Land nicht verlassen, es gibt in begründeten Fällen aber Ausnahmen. Zum Beispiel, wenn jemand an einem Sportwettbewerb oder an einem anderen internationalen Treffen teilnimmt. Das wird leider ziemlich intransparent entschieden. Wenn man jemanden kennt in der Militäradministration, gilt die Bleibepflicht nicht ganz so strikt.
Aber unser Blick auf die Armee verändert sich sehr. Wir haben gelernt, stolz auf sie zu sein. Traditionell wurde der Militärdienst bei uns als Strafe, als eine Art Besserungsanstalt betrachtet. Das war ein Erbe aus der Sowjetzeit, nach dem Motto: Du hast Alkoholprobleme oder bist in jungen Jahren kriminell geworden? In der Armee wirst du lernen, dich am Riemen zu reißen! Das ist jetzt anders. Was man auch daran sieht, dass etwa 50.000 ukrainische Frauen dort freiwillig Dienst tun, an der Waffe und als Zivilkräfte. Nach der Invasion am 24. Februar haben sich über 7000 Frauen entschieden, zur Armee zu gehen. Jetzt werden erstmals Uniformen für Frauen angeschafft. Das Training und die Effizienz sind viel besser geworden und nähern sich NATO-Standards an. Das ist eine gute Entwicklung.
Viele Jugendorganisationen in Europa, auch der Bayerische Jugendring, sehen sich der Friedensarbeit und der Völkerverständigung verpflichtet und hoffen auf baldige Verhandlungen und ein Kriegsende. Wie ist Deine Haltung dazu?
Ich weiß, dass Deutschland aufgrund seiner Geschichte sehr auf Versöhnung bedacht ist. Aber im Moment ist es uns nicht möglich, das als Priorität zu sehen und irgendeine Art von Dialog mit Russland zu führen. Wir können in keinen Dialog treten, wenn so viele Zivilisten, darunter Kinder, durch russische Bomben sterben. Wir brauchen den Sieg, nicht irgendeinen Frieden, den meine Landsleute als Niederlage betrachten würden. Ein Frieden unter den Bedingungen des Aggressors ist nicht möglich. Er würde von Russland doch nur als Einladung aufgefasst, die Ukraine erneut anzugreifen.
Wie ist die aktuelle Situaion von ukrainischen Jugendorganisationen?
Sie werden vergessen. Ich fürchte, dass viele Organisationen, die auf Ehrenamt basieren, nach dem Krieg nicht mehr existieren. Das ist das größte Problem, dass so viele junge Menschen das Land verlassen haben. Viele werden im Ausland bleiben, je nachdem, wie lange der Krieg dauert und welche Perspektiven sich ihnen bieten. Manche werden in der Fremde heiraten, viele werden fortbleiben, weil sie attraktive Jobs gefunden haben.
Was hilft Euch ganz konkret?
Der NYCU erhält keine regelmäßige staatliche Unterstützung, sondern ist auf Finanzierung durch Projekte wie internationale Jugendkonferenzen angewiesen. Es gibt seit dem 24. Februar kein festes Büro und keine fest angestellten Mitarbeiter beim NYCU mehr, auch meine Arbeit als Vorsitzende ist ehrenamtlich. Wichtig wäre aber eine unabhängige Finanzierung, sodass ein oder zwei bezahlte Mitarbeiter eine gewisse Kontinuität sicherstellen können. Leider ist das nicht so. Im Moment hat die ukrainische Jugendarbeit kein Budget.
Sehr wichtig ist, so viele bilaterale Kooperationen wie möglich zu erhalten, zwischen einer Organisation aus einem EU-Land und einer ukrainischen Organisation. So können ukrainische Organisationen sehen, wie europäische Organisationen arbeiten. Alle deutschen Akteure, die die Ukraine aktuell unterstützen, bitte ich: Haltet Kontakt zu unseren Jugendorganisationen. Die Zusammenarbeit mit unserer Regierung ist wichtig, aber die zivilgesellschaftlichen Organisationen haben einen anderen Blick auf die Dinge – und auch andere Bedürfnisse.
Welche Rolle spielt, dass die Ukraine seit dem 23. Juni 2022 offiziell EU-Beitrittskandidatin ist?
Das spielt eine ganz entscheidende Rolle. Der angestrebte EU-Beitritt ist für die Zivilgesellschaft der Ukraine extrem wichtig. Die Aussicht, einmal EU-Mitglied zu werden, stellt eine Motivation für die Menschen dar, die europäische Integration voranzutreiben. Es ist essenziell für uns zu wissen, dass der Westen uns unterstützt. Die Ukraine hat beispielsweise keine funktionierende rechtsstaatliche Justiz. Hier sind dringend tiefgreifende Reformen nötig. Jetzt, wo die Ukraine EU-Beitrittskandidatin ist, können wir zur Regierung gehen und fragen, warum sie diese Reformen nicht angeht. Wenn die Regierung als Konsequenz kein Geld aus dem Westen erhält, können wir sagen: Korrigiert Euren Kurs, Ihr macht es falsch! Den Menschen in den EU-Mitgliedsländern möchte ich sagen: Behaltet die Ukraine im Auge und lasst nicht locker!