"Coming-out beschreibt einen persönlichen und selbstbestimmten Prozess, in dem Menschen ihr eigenes romantisches und/oder sexuelles Begehren und/oder geschlechtliche Identität wahr- und annehmen."1 Anders als bei heterosexuellen cis Personen2, die kein Coming-out benötigen, da ihre Lebensweise und geschlechtliche Identität der gesellschaftlichen Norm entspricht, setzen sich queere3 Personen nach einer DJI Jugendstudie im Großteil im Alter zwischen 13 und 16 Jahren mit der Bewusstwerdung auseinander. Dieser Schritt wird als einer von zweien definiert: Neben der Bewusstwerdung (auch inneres Coming-out) – also der Fragestellung nach der eigenen sexuellen Orientierung und/oder geschlechtlichen Identität – gibt es auch das äußere Coming-out oder going public. In dieser Phase stehen Überlegungen im Vordergrund, ob überhaupt und wenn ja, wann und wem man sich anvertrauen möchte. Insbesondere bei Trans Jugendlichen können in dieser Zeit ein neuer, gewünschter Name oder ein anderes Pronomen bei der Ansprache sowie Überlegungen für eine rechtliche Personenstandsänderung oder medizinische Transitionsprozesse eine große Rolle spielen.
Die Spanne zwischen innerem und äußerem Coming-out umfasst für die meisten Jugendlichen mehrere Jahre und ist niemals abgeschlossen, da sich bei verändertem sozialem Umfeld bzw. neuen Bekanntschaften wieder die eigene Identifizierung erläutert werden muss. Darüber hinaus ist auch wichtig zu betonen, dass ein Fremd-Outing – also ein Outing gegen den eigenen Willen – unbedingt vermieden werden sollte. Häufig kann es für die Person sehr gewaltvoll sein und unvorhersehbare Nachwirkungen haben.
Insgesamt kann dieser Prozess, die eigene nonkonforme sexuelle Orientierung oder geschlechtliche Identifizierung zu akzeptieren, teils zwischen mehreren Monaten und Jahren dauern, in manchen Fällen führt er sogar zu psychischen Belastungen, Sucht und Suizid. Deshalb werden gerade junge LSBTIQAP+6 als besonders vulnerabel bezeichnet.
Jugendtypische Orte und Familien
Vor allem in Bildungseinrichtungen erfahren nicht wenige Diskriminierung durch Lehrkräfte oder Mitschüler:innen, so die Jugendstudie, die sich den Interviews der Jugendlichen deckt. Eine Münchner Umfrage4 an Fachkräfte, attestiert mit 90% den Schulen, dass dort ein „unfreundliches soziales Klima für schwule und lesbische Jugendliche“ herrsche. Darüber hinaus gaben 82% an, dass an den in Jugendfreizeitstätten homophobe Ereignisse verbreitet sind. Und fast 80% der Fachkräfte gehen davon aus, dass Homosexualität in den Familien nach wie vor nicht problemlos akzeptiert wird. Die DJI-Jugendstudie5 beschreibt das Outing im familiären Kontext zwar etwas geringer, aber im Vergleich zu den Kontexten Bildungs- und Arbeitsorte und Freundeskreis als am schwierigsten. Letzter nimmt fast schon eine Ausnahmestellung ein: zwei Drittel der queeren Jugendlichen wenden sich an den besten Freund oder die beste Freundin. Da die Reaktionen der selbst gewählten Vertrauenspersonen meist keine Überraschung ist und im Vorfeld gut eingeschätzt werden kann, versprechen sich viele Verständnis und Unterstützung – eine wahre Ressource im Coming-out-Prozess.
Ressourcen und Vorbilder
Die Suche nach emotionalem Rückhalt findet neben dem schulischen, familiären oder freundschaftlichen Kontext auch in der Jugendarbeit oder in Vereinen statt, in denen sich junge Menschen in ihrer Freizeit bewegen. Insbesondere für die gesellschaftliche Teilhabe, vor allem in ländlichen Räumen, sind derartige unverzweckte Gruppenkontexte und Vorbilder jenseits von Lehrer:innen oder Eltern wichtig. Die Jugendarbeit erhebt häufig selbst den Anspruch, niedrigschwellige Anlaufmöglichkeiten zu bieten, insbesondere bei Diskriminierungen, und Räume, in denen Jugendliche sich und ihre Persönlichkeit frei entfalten und entwickeln können. Dieser Verantwortung müssen sich Fachkräfte bewusst sein, ihre Regenbogenkompetenz weiterentwickeln und diversitätssensible Angebote bereithalten. Dadurch kann es Fachkräften in der Jugendarbeit gelingen, die Auswahl an alternativen Vorbildern zu ergänzen, an denen sich Jugendliche zwangsläufig orientieren. Nicht selten werden bekannte queere Persönlichkeiten wie Künstler Thomas Neuwirth (alias Conchita Wurst), Ex-Profisportler Balian Buschbaum oder Komikerin Hella von Sinnen aufgelistet, ergänzt um Musiker:innen, Weltstars oder YouTu-ber:innen, die sich mit der Community solidarisieren. Das kann sicherlich für einen gewissen Teil zur Orientierung beitragen, jedoch profitieren Jugendliche von lebensnahen Modellen und Erfahrungen dann am meisten, wenn die Individualität und Entscheidungsfreiheit des:der Einzelnen im Mittelpunkt steht. Daher können Fachkräfte in der non-formalen und informellen Bildung für die Jugendlichen wichtige Vorbilder und Identifikationsmöglichkeiten sowie vertrauenswürdige Ansprechpersonen sein.
Begleitung durch Jugendarbeiter:innen
Aus den vorangegangenen Ausführungen klingt bereits durch, dass es der Jugendarbeit seit jeher ein wichtiges Anliegen ist, sich für eine offene, tolerante und vielfältige Gesellschaft zu engagieren, in der auch queere Lebensweisen und geschlechtliche wie sexuelle Vielfalt selbstverständlich sind. Dies bedarf allerdings der grundsätzlichen Sensibilisierung und noch stärkeren Sichtbarkeit für das Thema, sowie einem sachlich gesellschaftlichen Diskurs, der durch Hintergrund- und Fachwissen gestützt ist. Die angeführten Studien und deren Ergebnisse ermöglichen dies bereits in Ansätzen, wenngleich manche Forschung noch ausbaufähig ist. Für eine akzep-tierende und offene Atmosphäre in Einrichtungen der Jugendarbeit gegenüber LSBTIQAP+ Jugendlichen ist nicht nur die Haltung der Fachkräfte entscheidend, sondern auch das Leitbild des Trägers. Schließlich bieten Jugendgruppen sehr viel Raum für Entwicklung, Potenzial und Unterstützung. Daher sollte in der Konzeption, Satzung oder im Leitbild eine klare Positionierung pro Vielfalt sexueller Orientierungen und geschlechtlicher Identitäten verankert sein. Meist ist es empfehlenswert, sich auf das Thema Vielfalt insgesamt zu beziehen – und damit die verschiedenen Ebenen möglicher Ungleichheiten wie Religion, Migration, sexuelle Orientierung, ge-schlechtliche Zugehörigkeit oder Behinderung zu berücksichtigen. Darüber hinaus ist im thematischen Bezug auch eine wertschätzende Sprache wichtig: klare Regeln für den Umgang mit Ausgrenzung, Diskriminierung, Gewalt sowie insbesondere mit homo- oder transphoben Schimpfwörtern sollten allgemein vereinbart sein und kommuniziert werden. Weitere Möglichkeiten wie Mitarbeitende den Coming-out-Prozess gut begleiten können:
- Internetangebote als Informationsquelle und Beratungsangebot ausbauen und sichtbar machen: neben dem Ausprobieren in selbstbestimmten Tempo bietet die anonyme, niedrigschwellige und ständige Verfügbarkeit große Vorteile auch in ländlichen Räumen
- Expert:innen aus Community einladen, z. B. für Aufklärungsprojekte oder themenbezogene Workshops
- Konzeptionelle Ausrichtung von Angeboten: diversitätssensibel konzeptionieren, individuelle Bedarfe berücksichtigen (z. B. geschützte Räume für Jugendliche) und sichtbar machen (über Label, Plakate oder Flyer und Aufkleber an Eingangstüren bzw. -bereichen)
- Netzwerke zu Angeboten (Jugendgruppen, Beratungsstellen, Selbsthilfegruppen, …) ausbauen
1 Vielfalt verstehen - eine kleine Einführung in queere Begriffe vom Hessischen Jugendring, www.queere-jugendarbeit.de
2 Die Vorsilbe „cis“ verweist auf die Übereinstimmung der eigenen Geschlechtsidentität mit dem zugteilten Geschlecht.
3 Mit queer sind in diesem Kontext alle nicht-heteronormativen und cisgeschlechtlichen Lebensweisen und Identitäten gemeint.
4 https://www.muenchen.de/rathaus/Stadtverwaltung/Direktorium/Koordinierungsstelle-fuer-gleichgeschlechtliche-Lebensweisen/Jugendliche-Lesben-und-Schwule/Jugendstudie/Befragung.html
5 https://www.dji.de/ueber-uns/projekte/projekte/coming-out-und-dann.html
6 vgl. Glossar zu Begriffen geschlechtlicher und sexueller Vielfalt von Katharina Debus und Vivien Laumann, Stand 07.10.2020
Die Kurzbezeichnung LSBTIQAP+ steht für lesbisch, schwul (oder englisch: gay), bisexuell/ biromantisch, trans*, inter*, queer, asexuell/ aromantisch, pansexuell/ panromantisch. In den Begriffsdiskussionen werden auch kürzere Formen verwendet, die sexuelle Formen ausklammer oder um die Differenzierung zwischen transsexuell und transgender erweitern. Der ‚*‘ soll gelegentlich hinter einzelnen Buchstaben deutlich machen, dass das entsprechende Wort unterschiedlich enden kann (z.B. transgeschlechtlich, transsexuell etc.) oder dass die Grenzen zwischen den Kategorien fließend sind.