24.10.2021

Handeln jetzt! Afghan:innen brauchen Lebensperspektiven

Die Delegierten der 159. BJR-Vollversammlung fordern ein sofortiges Handeln angesichts der Situation in Afghanistan.

Wir sind schockiert über die Geschichten und Bilder, die uns zur Lage in Afghanistan aus den Nachrichten und vor allem über afghanische Freund:innen und Bekannte aus der Jugendarbeit erreichen. Menschenleben sind in Afghanistan derzeit akut in Gefahr, und Afghan:innen in Deutschland stehen unter enormem psychischen Druck. Es darf deshalb nicht länger gewartet werden, wir brauchen schnelles Handeln! In der Jugendarbeit sind wir jetzt gefordert, junge Afghan:innen zu stärken und auf die Lage in Afghanistan aufmerksam zu machen. Von der Bayerischen Staatsregierung, der Bundesregierung und der EU fordern wir:

  • Besonders gefährdete Personen evakuieren
    Seit der Machtübernahme der Taliban sind zahlreiche Personengruppen in akuter Lebensgefahr. Die Bundesregierung muss hier Verantwortung übernehmen, ihre Ausreiselisten erweitern und gefährdeten Personen eine sichere Ausreise ermöglichen. Dazu zählen neben denjenigen, die für deutsche Organisationen gearbeitet haben, auch kritische Journalist:innen und Wissenschaftler:innen, Künstler:innen und Aktivist:innen, die sich für eine demokratische Gesellschaft stark gemacht haben, sowie Angehörige ethnischer, religiöser oder sexueller Minderheiten.
  • Aufnahmeprogramme durchsetzen
    Sowohl auf Bundesebene als auch in Bayern muss ein Bundes- bzw. Landesaufnahmeprogramm für Afghan:innen eingeführt werden, über das eine unkomplizierte und sichere Ausreise nach Deutschland resp. Bayern möglich ist. Zudem müssen bestehende Resettlement-Programme genutzt werden, damit möglichst viele gefährdete Afghan:innen sicher ausreisen können. 
  • Unbürokratisch und pragmatisch handeln
    Die Ausreise und Aufnahme von Afghan:innen muss so schnell wie möglich organisiert werden. Hier ist ein pragmatisches und unbürokratisches Handeln erforderlich. Es geht darum, Menschenleben zu retten! Das Gleiche gilt für die Bearbeitung von Anträgen in Deutschland. Die Situation in Afghanistan macht beispielsweise eine Passbeschaffung aktuell beinahe unmöglich. Auch hier ist Flexibilität gefordert.
  • Familiennachzug ermöglichen
    Auch Familienangehörige von Afghan:innen, die bereits in Deutschland leben, sind besonders gefährdet. Hinzu kommt, dass Afghan:innen in Deutschland aus Sorge um ihre Angehörigen aktuell unter extremer psychischer Belastung stehen. Anträge auf Familiennachzug müssen daher schnell und unbürokratisch bearbeitet werden. Der Familiennachzug muss auch für Angehörige außerhalb der Kernfamilie sowie volljährige Söhne und Töchter ermöglicht werden, wie bereits mehrfach gefordert, u.a. von den Delegierten der 152. BJR-Vollversammlung1.
  • Botschaften in den Nachbarländern stärken
    Wer es aus Afghanistan – meist unter hohen Kosten – in eines der Nachbarländer schafft, wartet dort oft monatelang unter schwierigen Bedingungen auf einen Termin an einer deutschen Botschaft. Die Botschaften in Afghanistans Nachbarländern müssen personell aufgestockt werden, um Anliegen von Afghan:innen schnell bearbeiten zu können. Auch muss ein (digitales) Verfahren geschaffen werden, das es Afghan:innen ermöglicht, einen Visumsantrag zu stellen, ohne die gefährliche und teure Reise in ein Nachbarland unternehmen zu müssen.
  • Zivilgesellschaftliche Organisationen unterstützen
    Insbesondere die Kabul Luftbrücke, aber auch andere zivilgesellschaftliche Organisationen leisten aktuell Enormes, um Menschen aus Afghanistan zu retten. Diese Organisationen brauchen die Unterstützung, zumindest aber das Wohlwollen der Bundesregierung. Trotz des erfolgreichen Einsatzes zivilgesellschaftlicher Organisationen sollte aber stets klar bleiben, dass der Staat die Verantwortung für die Rettung der Menschen aus Afghanistan trägt und übernehmen muss.
  • Stipendienprogramme für Frauen aufbauen
    Viele motivierte Frauen sehen sich in Afghanistan nun damit konfrontiert, ihren Bildungsweg abbrechen zu müssen. Diesen Frauen eine Bildungsperspektive in Deutschland zu bieten wäre nicht nur eine Chance für die Frauen selbst, auch Deutschland könnte davon profitieren. Es sollte daher Stipendienprogramme speziell für afghanische Frauen geben, die eine höhere Bildung anstreben.
  • Afghan:innen in Deutschland eine Lebensperspektive bieten
    Die Lage in Afghanistan war schon vor der Machtergreifung der Taliban für viele gefährlich. Jetzt ist klar, dass ein gutes und sicheres Leben dort flächendeckend für zahlreiche Afghan:innen über lange Zeit nicht mehr möglich sein wird. Die Aussetzung der Abschiebungen war der erste Schritt. Jetzt braucht es sowohl für Afghan:innen, die neu in Deutschland ankommen, als auch für die, die hier mit unsicherem Aufenthaltsstatus leben, klare Zusagen und Aussichten auf ein dauerhaftes Bleiberecht. Nur so ist ein echtes Ankommen möglich, das psychische Entlastung schafft, den Familiennachzug und den freien Zugang zu (Aus-)Bildung, Arbeit, Wohnungen und vielem mehr ermöglicht. Die Delegierten des Bayerischen Jugendrings haben sich bereits mehrfach dafür ausgesprochen, dass junge Menschen Perspektiven und einen festen Aufenthaltsstatus brauchen. Diese Forderungen bekräftigen wir jetzt mit Nachdruck.2
  • Entscheidungsstopp aufheben & Asylentscheidungen beschleunigen
    In diesem Zusammenhang ist auch unbedingt erforderlich, dass das BAMF den aktuell verhängten Entscheidungsstopp bei Asylverfahren von Afghan:innen aufhebt. Stattdessen müssen Entscheidungen beschleunigt werden, um den Betroffenen möglichst bald ein gesichertes Leben zu ermöglichen.
  • Beratungsangebote ausbauen
    Afghan:innen in Deutschland brauchen verlässliche Informationen darüber, welche Folgen ein Asyl-Folgeantrag für sie hätte, wie sie gefährdete Angehörige in Afghanistan nachholen können und was jetzt ihre Optionen sind. Beratungsangebote müssen daher ausgebaut werden und Berater:innen klare Informationen durch die Ministerien erhalten.
  • Zugang zu psychotherapeutischen und psychosozialen Angeboten schaffen
    Viele Afghan:innen in Deutschland brauchen angesichts der extrem belastenden Situation dringend psychosoziale bzw. psychotherapeutische Unterstützung. Hier braucht es ein flächendeckendes System mit ausreichend Therapieplätzen in Bayern, über das Menschen unkompliziert Hilfe finden können, wie bereits im Beschluss der 152. Vollversammlung des BJR gefordert.3

1 Vgl. Beschluss der 152. Vollversammlung: „Für ein Klima der Menschenfreundlichkeit“ 
2 Vgl. Beschluss des 149. Hauptausschusses: „Ausbildung erlaubt! – Alle junge Menschen brauchen Perspektiven!“; Beschluss des 145. Hauptausschusses: „Willkommen in Bayern!? – Unsere Verantwortung für Asylsuchende und Flüchtlinge“ und Beschluss der 155. Vollversammlung: „Für ein sicheres Ankunftsland“.
3 Vgl. Beschluss der 152. Vollversammlung: „Für ein Klima der Menschenfreundlichkeit“

Patrick Wolf
er/ihm
Büroleiter und Queer-Beauftragter