18.10.2015

Perspektivenwechsel: Einwanderung und Integration gestalten – nicht Flüchtlinge verwalten

Unzählige Ehrenamtliche aller Altersgruppen engagieren sich zurzeit, um Flüchtlingen zu helfen. Sie setzen damit ein wesentliches politisches Zeichen für Hilfsbereitschaft und Menschlichkeit und gegen Fremdenfeindlichkeit.

Eine solche zivilgesellschaftliche Ressource ist für ein demokratisches Gemeinwesen unverzichtbar. Motivation und Möglichkeiten, sich – auch in der Jugendarbeit – zu engagieren, sind sicherlich noch nicht erschöpft und können noch ausgeweitet werden.

Wir werden immer wieder aufs Neue vor der Frage stehen: Wandel gestalten oder Wandel erleiden?“ Alois Glück

Es ist ein Gebot der Humanität, Menschen auf der Flucht Schutz zu gewähren

Unzählige Ehrenamtliche aller Altersgruppen engagieren sich zurzeit, um Flüchtlingen zu helfen. Sie setzen damit ein wesentliches politisches Zeichen für Hilfsbereitschaft und Menschlichkeit und gegen Fremdenfeindlichkeit. Eine solche zivilgesellschaftliche Ressource ist für ein demokratisches Gemeinwesen unverzichtbar. Motivation und Möglichkeiten, sich – auch in der Jugendarbeit – zu engagieren, sind sicherlich noch nicht erschöpft und können noch ausgeweitet werden. Allerdings: Individuelle Hilfsbereitschaft gerät an ihre Grenzen und ehrenamtliches Engagement wird überfordert, wenn ein eindeutiger politischer Gestaltungswille fehlt und die Verwaltungsorganisation nicht wahrnehmbar auf ein gemeinsames Ziel ausgerichtet ist. Eine Willkommens- und Anerkennungskultur ist nur der erste Schritt. Zur Gestaltung von Einwanderung und Unterstützung ist die Entwicklung von gelingenden Integrationskonzepten notwendig.

Das Potential der Menschen fördern – nicht ihr Schicksal verwalten

Eine weitere Einschränkung des Grundrechts auf Asyl, wie durch die Änderung des Artikels 16 a Grundgesetz im Jahr 1993 geschehen, lehnen wir entschieden ab. Insbesondere die Kinderrechte gemäß der auch von Deutschland ratifizierten UN-Kinderrechtskonvention gelten uneingeschränkt vom ersten Tag der Einreise.

Die Verwaltungsbestimmungen und Organisationsverfahren, auf deren Grundlage die nach Deutschland kommenden Flüchtlinge aktuell versorgt werden, sind nicht getragen von der Vorstellung, Integration und Einwanderung zu gestalten. Die bestehenden Regelungen und Verfahren reichen nicht aus, um die gesellschaftlichen Herausforderungen zum Wohl der Menschen zu bewältigen. Sie wirken dysfunktional und verstärken die Überforderung der verantwortlichen Stellen und Strukturen auf den untersten staatlichen Ebenen, die trotz größter Anstrengungen viele Probleme nicht lösen können. Die Verschiebung der Finanzierungsverantwortung zwischen den staatlichen Ebenen ist ein Ausdruck dieses mangelhaften gesamtstaatlichen Gestaltungswillens. Wir sehen deshalb die Notwendigkeit einer grundlegenden Umorientierung mit einer Neuorganisation der staatlichen Verantwortung auf allen Ebenen auf Grundlage einer neu zu entwickelnden, in sich stimmigen Rechtsgrundlage. Eine eindeutige und klare Integrationsperspektive ist für die Behörden wie für die Motivation der Flüchtlinge wichtig.1

Einwanderung ist eine Bereicherung

Deutschland ist tatsächlich seit langem ein Einwanderungsland, ehemalige Flüchtlinge und Einwanderer sind bereits heute Teil unserer Gesellschaft und gestalten diese mit. Bevölke-rungsvorausberechnungen zeigen allerdings, dass selbst bei einem Einwanderungssaldo von durchschnittlich 230.000 Menschen pro Jahr die Einwohnerzahl in Deutschland von heute ca. 81 auf 73 Millionen bis 2060 sinken wird, bei schwächerer Zuwanderung von 130.000 pro Jahr auf 68 Millionen2. Im Jahr 2014 stellten rund 202.000 Personen Asylanträge, von denen ca. 30 bis 40 Prozent bleiben werden.3 Auch wenn sich die Flüchtlingszahlen 2015 im Vergleich zum Vorjahr vervielfachen werden, sind Befürchtungen hierüber angesichts der jährlich eigentlich erforderlichen Einwanderungszahlen irreführend und weisen in die falsche Richtung.

Fachkräfte von morgen werden heute ausgebildet

Modellrechnungen über den Fachkräftemangel in Deutschland kommen alle zu ähnlichen Ergebnissen. 2025 werden nicht mehr ausreichend Arbeitskräfte vorhanden sein, bereits vorher wird es in einzelnen Berufen und Regionen zum Fachkräftemangel kommen. Besonderer Bedarf wird spätestens ab 2025 im mittleren Qualifikationssegment (mit abgeschlossener Berufsausbildung) bestehen. Als Ursache ist insbesondere die Bevölkerungsentwicklung zu sehen, deshalb gilt lediglich die Zuwanderung als mittel- und langfristig bedeutsame Einflussgröße, um dem Fachkräftemangel zu begegnen. Das heißt, es tut sich jetzt ein Zeitfenster von ca. zehn Jahren auf, das wir nutzen können, um die Fachkräfte für morgen heranzubilden. Das ist eine der Zukunftsaufgaben, für die heute Anstrengungen und notwendige Perspektivwechsel zu unternehmen sind und auf die gesellschaftliche Investitionen ausgerichtet werden sollten. Fachkräfte stehen nicht auf Abruf an den Grenzen bereit, wir können aber heute die jungen Menschen, die morgen gebraucht werden, mit ihren Potentialen wahrnehmen, fördern und ausbilden.

Es kommen Menschen - nicht Arbeitskräfte

Diese zentrale Einsicht aus der Zeit der Anwerbung von Gastarbeitern/-innen zwischen 1960 und 1973 gilt unvermindert auch heute. Es geht um Familien, um Kinder und Jugendliche, die hier wohnen, zur Schule gehen, ihre Freizeit verbringen und für sich eine Lebensperspektive entwickeln wollen. Je schneller und aktiver wir diejenigen, die heute als Flüchtlinge nach Deutschland kommen, fördern und ihre gesellschaftliche Teilhabe unterstützen, desto erfolgreicher wird Integration gelingen. Hierbei sind ihre religiösen Orientierungen zu respektieren, gleichzeitig muss unsere demokratische Rechts- und Wertegemeinschaft wahrnehmbar sein und sich den notwendigen interkulturellen Fragestellungen öffnen. Das bestätigen die langjährigen positiven Erfahrungen aus der Jugendarbeit mit Jugendlichen mit Migrationshintergrund in überzeugender Weise. Deshalb ist jetzt ein eindeutiges politisches Bekenntnis für diese Integrationsperspektive und die Organisation der Einwanderung als gesamtstaatliche Aufgabe erforderlich. Die unzumutbare Dauer der Asylverfahren stellt ein Integrationshemmnis dar, das es – ohne Einbuße der inhaltlichen Qualität der Prüfung – abzubauen gilt. Die Initiative „Integration durch Ausbildung“ der Bayerischen Staatsregierung mit der bayerischen Wirtschaft und der Regionaldirektion für Arbeit ist ein erster wichtiger Schritt. Die vielen jungen Menschen, die zu uns kommen, sind aller Anstrengungen wert, damit sie sich möglichst gut auf dem Arbeitsmarkt einfinden können. Die gesellschaftliche und politische Verantwortung zur Förderung von Integration und Gestaltung von Einwanderung reicht allerdings weit darüber hinaus und muss entsprechend wahrgenommen werden.

Einwanderung ist jung

70 Prozent der Flüchtlinge sind jünger als 30 Jahre, 30 Prozent sind jünger als 18 Jahre. Bereits aus diesen beiden Zahlen wird deutlich, welche Verantwortungsbereiche besonders viel dazu beitragen können, um Integration und Einwanderung zu gestalten. Benötigt wird ein aufeinander abgestimmtes Programm der Erziehung, Bildung und Betreuung, das mit Sondermitteln ausge-stattet ressortübergreifend und über alle staatlichen Ebenen hinweg ein Angebot ermöglicht. Der Kinder- und Jugendhilfe und den Kommunen werden die meisten Aufgaben zugewiesen. Sie können diese gesamtstaatliche Gestaltungsaufgabe aber nicht allein meistern.

Die bekannten Schwierigkeiten, Hindernisse und Widerstände in der notwendigen Zusammenarbeit mit anderen öffentlichen Aufgabenbereichen (z. B. Gesundheitsfürsorge, Arbeitsverwaltung, Schulwesen) treten auch hier wieder auf. Sie sind aber besonders schwerwiegend, weil sie die Belastungen des Jugendhilfe- und Sozialsystems zusätzlich verstärken. Immer klarer wird: Jugendhilfe allein kann diese Fragestellungen nicht bewältigen. Wenn in Folge der Notfalllösungen dauerhaft Integration leistende Ressourcen der Jugendarbeit nicht mehr zur Verfügung stehen, gehen der Gesellschaft entscheidende Chancen hierfür verloren. Dies gilt für Sportstätten in gleicher Weise. Deshalb sind alle politischen Felder aufgefordert, Ressourcen ihrerseits zur Verfügung zu stellen. Die Verwaltung auf allen Ebenen ist aufgerufen, planvoll und kommunikativ Menschen miteinzubeziehen und nicht durch vermeintliche schnelle Lösungen Irritationen bei denen hervorzurufen, die sich längst aktiv einbringen.

Politischer Mut, nicht parteipolitische Profilierung ist gefragt

Deutschland als Einwanderungsland zu benennen und die erforderlichen Integrationsaufgaben politisch aktiv zu gestalten, erfordert als erstes einen breiten politischen Konsens aller demokra-tischen Parteien sowie ein auf dieses gemeinsame Ziel ausgerichtetes Ringen um den besten Weg. Aus unserer Sicht handelt es sich bei dieser gesellschaftlichen Frage der Behandlung von Menschen auf der Flucht und bei dem damit unweigerlich zu diskutierenden notwendigen Integrationsthema um eine zentrale – wenn nicht die zentralste – Frage in Deutschland und Europa. Sie ist nicht dazu angetan, im parteipolitischen Gefecht das eigene Profil zu verschärfen. Reißerische Berichterstattungen, das ständige Heraufbeschwören von „dramatischen Zuständen“, „gigantischen Herausforderungen“ und die Betonung der vermeintlichen Unterscheidbarkeit von „echten“ und „falschen“ Flüchtlingen beschädigen die Würde der Menschen auf der Flucht. Diese Reden befördern Applaus von der falschen Seite, aber keinen gesellschaftlichen Perspektivwechsel. Einfache Antworten gibt es nicht, Lösungen können aber schneller gefunden und breiter akzeptiert werden, wenn die Bereitschaft zum Konsens verstärkt und offensiv kommuniziert wird. Wir brauchen eine konsequente Integrationsperspektive als Prinzip des Aufnahmesystems.

In dem vom Bayerischen Ministerrat am 9. Oktober 2015 beschlossenen Sonderprogramm „Zusammenhalt fördern, Integration stärken“ erkennen wir in Teilen einen ersten Schritt hin zu einem von uns geforderten Perspektivenwechsel. Hierzu gehören insbesondere die Maßnahmen zur Verbesserung und Erleichterung der Integration durch Sprachförderung, Bildung, Jugendarbeit und Arbeit. Mit diesen Maßnahmen werden aus unserer Sicht erste Weichen gestellt, um Einwanderung zu gestalten, aber viele weitere müssen noch folgen. Hieran wird sich Jugendarbeit weiterhin aktiv beteiligen.

Mit Begriffen wie „Flüchtlingskrise“, „Bewältigung des Flüchtlingsstroms“ „Begrenzung der Zuwanderung“, die ebenfalls in diesem Beschluss zu finden sind, wird allerdings eine politische Stimmung bedient, die dazu führt, dass Ängste geschürt und Vorurteile verstärkt, die Probleme aber nicht gelöst werden

1 Vgl. Bertelsmann Stiftung: Die Arbeitsintegration von Flüchtlingen in Deutschland. Humanität, Effektivität, Selbstbestimmung, 2015.
2 Statistisches Bundesamt: Ergebnis der 13. Koordinierten Bevölkerungsvorausberechnung, 2015.
3 Vgl. BAMF: Asylgeschäftsstatistik, Dezember 2014

Beschlossen vom 147. Hauptausschuss des Bayerischen Jugendrings vom 16. bis 18. Oktober 2015

Patrick Wolf
er/ihm
Büroleiter und Queer-Beauftragter