20.03.2022

Geflüchtete Mädchen und junge Frauen stärken

Der Bayerische Jugendring setzt sich seit Jahren für das Wohl von geflüchteten Kindern und Jugendlichen ein. Insbesondere seit 2015 hat sich der BJR vielfach positioniert und Maßnahmen in Projekten ergriffen.

Beispielhaft seien hier folgende Positionspapiere genannt:

Auch in dieser Position sollen v.a. Mädchen und Frauen im Fokus stehen. Grundlage dieses Papiers ist ein Fachgespräch mit Expertinnen am 29.07.2021, organisiert von der AG Flucht, der Kommission Jugend in der Migrationsgesellschaft und der Kommission Mädchen- und Frauenarbeit des BJR.

Frausein und Flucht

Junge Geflüchtete – ob unbegleitet oder begleitet, egal welchen Geschlechts – sind eine besonders vulnerable Gruppe. Flucht wird in der Öffentlichkeit oft als männlich wahrgenommen, dabei sind 50% der Flüchtenden Frauen.1
Bei Mädchen und jungen Frauen gibt es die Gefahr einer Mehrfachdiskriminierung: Viele machen in ihren Herkunftsländern aufgrund ihres Geschlechts schwerwiegende Erfahrungen, die auch der Grund für ihre Flucht sein können. Diese reichen von politischer Verfolgung und struktureller Diskriminierung bis hin zu sexualisierter Gewalt, Zwangsverheiratung und Genitalverstümmelung.2 Diese geschlechtsspezifische Gewalt kann sich auf der Flucht weiter fortsetzen.  Auch nach der Ankunft in Deutschland machen sie teils traumatisierende Erfahrungen und sind von sexueller Belästigung und Gewalt bedroht, insbesondere in größeren Gemeinschaftsunterkünften. Der Zugang zur Aufnahmegesellschaft ist für sie häufig noch schwierigerer als für Jungen und junge Männer. Die Erwartungen, die ihre Familie und die Gesellschaft im Ankunftsland in sie setzen, sind oft vielschichtig und konträr, was zu einer hohen psychischen Belastung führen kann.

Deshalb fordern wir:

  • Das Phänomen Flucht muss gendersensibel betrachtet werden. Mädchen und junge Frauen brauchen spezifisch auf sie zugeschnittene Angebote, ob in der Jugendhilfe oder der Jugendarbeit. Fachkräfte müssen für mögliche besondere Bedürfnisse geflüchteter Mädchen und Frauen sensibilisiert werden.
  • Bei Asylentscheidungen müssen mädchen- und frauenspezifische Fluchtgründe anerkannt werden. §3a Abs. 2(6) des Asylgesetzes bietet dafür eine Grundlage.  

Unterkunft und Wohnen

Viele (Gemeinschafts-)Unterkünfte bieten immer noch keine Privatsphäre, keine Schutzräume und keine Sicherheit für Mädchen und Frauen. Sie sind (sexuellen) Belästigungen, Übergriffen und Gewalttaten durch Mitbewohner:innen, Sicherheitspersonal und Menschen, die privaten Wohnraum zur Verfügung stellen, oftmals schutzlos ausgeliefert.

Deshalb fordern wir:

  • Für Mädchen, Frauen und weitere besonders schutzbedürftige Menschen müssen sichere Unterbringungsformen bereitgestellt werden.
  • Es ist insbesondere darauf zu achten, dass sanitäre Anlagen absperrbar und nicht einsehbar sind.
  • Die Privatsphäre in den Zimmern darf nicht verletzt werden, z.B. durch Anwesenheitskontrollen.
  • In allen Gemeinschaftsunterkünften müssen Gewaltschutzkonzepte, inklusive möglicher Anlaufstellen, umgesetzt und durch externes Personal evaluiert werden.
  • Private Wohnraumgebende sind auf einschlägige Vorstrafen zu überprüfen.
  • Für alle Geflüchteten ist eine dezentrale Unterbringung in Gebieten mit guter Erreichbarkeit zu Infrastrukturen, psychosozialen Einrichtungen und Bildungsorten nach allen Möglichkeiten umzusetzen.

Bildung und Bildungsberatung

Immer noch sind Frauen in Deutschland auf dem Arbeitsmarkt strukturell benachteiligt. Dies zeigt sich beispielsweise darin, dass sie weitaus öfter im Niedriglohnsektor beschäftigt sind als Männer. Für geflüchtete Frauen gilt das in besonderem Maße.
Ein Grund hierfür ist, dass Frauen oftmals unterschätzt werden. Mädchen und Frauen mit Fluchthintergrund haben häufig hohe Bildungsaspirationen, besonders, wenn sie aus Ländern kommen, in denen ihnen Bildung verwehrt wurde. Insbesondere bei Erstberatungen werden ihre Ambitionen allerdings häufig nicht ernst genommen, und sie werden über Bildungswege und Ausbildungsmöglichkeiten falsch beraten. Dies erschwert und verlängert ihren Bildungsweg und macht es ihnen teilweise unmöglich, ihre eigentlichen Ziele zu erreichen. Ebenso können falsche oder fehlende Übersetzungen zu Umwegen in der Ausbildung führen. Auch fehlende Betreuungsangebote für Kinder können ein Hinderungsgrund für junge Frauen sein, höhere Bildungsabschlüsse zu erreichen. 

Deshalb fordern wir:

  • Erstberatungen zum Bildungsweg müssen transparent und professionell sein und die gesamte Lebenssituation in den Blick nehmen. Anstatt Ambitionen im Keim zu ersticken, soll Mädchen und jungen Frauen Mut gemacht und Selbstvertrauen vermittelt werden. Ihre Wünsche müssen ernstgenommen werden. Um eine informierte Entscheidung treffen zu können, müssen Mädchen und junge Frauen über alle möglichen und individuell passenden Bildungswege informiert werden.
  • Auch wenn durch die Flucht Bildungsjahre verloren gingen, muss Mädchen und jungen Frauen der Besuch von Regelschulen ermöglicht werden.
  • Einen Nachteilsausgleich bei Leistungsnachweisen im formalen Bildungsbereich und zusätzliche Förderangebote für jene, welche die deutsche Sprache in kürzester Zeit erlernen mussten.
  • Für Bildungsberatungen sind Dolmetscher:innen nötig, die neben Sprachkompetenzen auch fachliche Kenntnisse des deutschen Bildungssystems mitbringen.
  • Damit junge Mütter unabhängig von persönlichen Unterstützungssystemen an Bildungsangeboten teilnehmen können, braucht es flächendeckend kostenlose Betreuungsangebote für Kinder.
  • Bildung darf nicht an fehlenden finanziellen Mitteln scheitern. Deshalb braucht es Beratungsangebote und Informationen zur Finanzierung von Bildungswegen.

Psychische Belastungen

Auf jungen Frauen liegt oft ein immenser Druck: Wie oben geschildert, streben viele eine gute Bildung und Arbeit an, auch zur finanziellen Unterstützung der Familie. Zusätzlich fällt Töchtern häufig die Care Arbeit für Kinder, Eltern und Geschwister zu, und sie werden z.B. zum Dolmetschen für ihre Eltern eingespannt. Außerdem gilt es, familiäre und gesellschaftliche Erwartungen zu erfüllen. Der Druck, sowohl berufliche Ziele zu erreichen als auch eine Familie zu gründen, vergrößert sich für viele junge geflüchtete Frauen noch dadurch, dass sich ihre Ausbildungszeit aufgrund der Flucht nach hinten verschiebt.
All dies führt häufig zu psychischen Belastungen, insbesondere in Kombination mit den auf der Flucht und nach der Ankunft in Deutschland erlebten Traumata.

Deshalb fordern wir:

  • Geflüchtete Familien müssen unmittelbar nach ihrer Ankunft Zugang zu Alltagshilfen erhalten. So können unmittelbar auch Mädchen und junge Frauen entlastet werden.
  • Geflüchtete Mädchen und Frauen mit psychischen Problemen müssen schnelleren Zugang zu passenden Beratungsstellen und Therapien haben.
  • Psychotherapeutische Beratung muss gender- und kultursensibel gestaltet werden.

Geflüchtete Mädchen und Frauen in der Jugendarbeit

Jugendarbeit kann als bestärkende Instanz eine besondere Rolle für das Ankommen und die Entwicklung geflüchteter Mädchen spielen. Hier kann individuell auf sie eingegangen werden und sie können Selbstwirksamkeit erfahren. Durch Selbstorganisation können sie in der Jugendarbeit ihren Themen Gehör verschaffen, ihre Interessen einbringen und auf Gleichgesinnte treffen. Dennoch sind sie oftmals noch wenig in der Jugendarbeit vertreten. Die Gründe dafür sind vielschichtig: Vielleicht fehlt Wissen über Angebote der Jugendarbeit, oder Eltern stehen Angeboten skeptisch gegenüber, vielleicht fehlen finanzielle Ressourcen oder passende Angebote in der Nähe.

Deshalb fordern wir:

  • Um Vorbehalte abzubauen, braucht es niedrigschwellige (Schnupper-)Angebote und einen sensiblen Umgang mit den Eltern und den Jugendlichen selbst.
  • Jugendzentren, Jugendverbände und Jugendringe brauchen Räume und Angebote speziell für Mädchen und junge Frauen.
  • Beratungs- und Bildungsangebote in Jugendzentren, -ringen und -verbänden können einladend für geflüchtete Mädchen und junge Frauen sein und so auch die Tür zu anderen Angeboten öffnen. Deshalb müssen entsprechende Angebote entwickelt und gefördert werden.
  • Es ist besonders darauf zu achten, dass Mädchen und Frauen mit Fluchterfahrung Zugang zu den Gremien der Jugendarbeit erhalten.

1 The UN Refugee Agency (2019): Global Trends forced Displacement 2018.Hg.v.the UN Refugee Agency. The UN Agency, S. 61.
2 Viele Betroffene empfinden den Begriff „Genitalverstümmelung“ als stigmatisierend und bezeichnen sich selbst als beschnitten. Der Begriff FGM/C (female genitale mutilation/cutting) versucht kritisch-reflektiert und antirassistisch heranzugehen und den Diskurs in Richtung Gewalt gegen Frauen und somit Menschenrechte zu verschieben. Allerdings besteht in der deutschen Übersetzung „Beschneidung“ eine Vergleichbarkeit mit männlicher Beschneidung und wirkt so als verharmlosender Euphemismus.

Patrick Wolf
er/ihm
Büroleiter und Queer-Beauftragter